Gegenwärtige sprachpolitische Diskurse sind von Fragen über das Machtverhältnis zwischen Sprache und einzelnen Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen geprägt. Im Raum stehen Fragen nach Macht und Ohnmacht einzelner Sprecher*innen gegenüber der Sprache als solche. Daran anschließend stellen sich normative Fragen. Etwa, ob es überhaupt gesellschaftlich wünschenswert ist, wenn Sprecher*innen auf sprachliche Strukturen und Formen Einfluss auszuüben suchen oder ob derartige Sprachkritik zugunsten der Alltagssprache zurücktreten sollte.
Ein philosophisches Problem ist das Machtverhältnis zwischen Sprache und Subjekt spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Zunehmend geriet damals ein
Seel plädiert für ein Widerspiel. Für ihn sind sprachliche Praktiken grundlegend von einem Ringen von Macht und Gegenmacht geprägt. Wie er mit einem Zitat des kanadischen Philosophen Charles Taylor anführt: „Im Verhältnis zur Sprache sind wir sowohl Schaffende wie Geschaffene.“
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen bildet zunächst ein Aufsatz
Die Sprache, sagt Seel, gibt also gewisse Strukturen vor, kann aber niemals vollständig bestimmen. Freiheiten ergeben sich durch individuelle Rückwirkungen auf die prägenden Gesetzmäßigkeiten. So ergeben sich in der „Bindung an die innere Dynamik der Sprache“, die gleichermaßen niemals vollständig beherrscht werden kann, Möglichkeiten persönlicher und politischer Selbstbestimmung.
Doch Macht und Gegenmacht der Sprache treten nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene zutage. Wie sollte gesprochen werden – wer kann und darf richtiges Sprechen definieren? Seel nähert sich dieser Frage zunächst mit
In seinen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur von 1768 lässt Herder zwei einander entgegengesetzte Mächte auftreten: die wild wuchernde Sprache der Dichtkunst und die nach größtmöglicher Eindeutigkeit strebende Sprache der Philosophie.
Für Herder sei Sprache nur dann lebendig, so Seel, wenn nicht eines der beiden Extreme die Herrschaft übernimmt. Lebendige Sprache sei für ihn eine Demokratie – und diese, schließt Seel, bedürfe einer Gewaltenteilung. Keine ihrer grundlegenden Dimensionen dürfe die andere dominieren. Wie Humboldt, so ist auch Herder für Seel Gewährsmann für eine Mittlerposition zwischen zwei widerstreitenden Momenten.
Wie nun aber lässt sich von Herder und Humboldt auf gegenwärtige Diskurse schließen?
Heute, sagt Seel, zeige sich das Ringen von Macht und Gegenmacht innerhalb der Sprache im Widerstand gegen von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie und Xenophobie geprägten sprachlichen Strukturen und Formen der Rede.
Zwei Lager stehen sich entgegen: Die einen, die Grammatik und Vokabular im Namen emanzipativer Projekte verändern wollen. Die anderen, die die Sprache vor derartigen Eingriffen zu schützen suchen (selbst wenn sie emanzipative Projekte grundsätzlich unterstützen mögen).
Beide Reaktionen, meint Seel, verstehen sich dabei als Bestrebungen, die „Lebendigkeit“ der Sprache zu bewahren. Beide sehen sich stattdessen jeweils dem Vorwurf der anderen ausgesetzt, die Sprache „im Namen einer falsch verstandenen Korrektheit“ unzulässig einzuschränken.
Seel verteidigt dabei sprachpolitische Projekte – eine Gegenmacht gegen diskriminierende Sprache – deutlich gegenüber den „grammatischen Traditionalisten“. Anders als bei Herder und Humboldt ginge es in derzeitigen Auseinandersetzungen nicht um metaphorische, sondern um buchstäbliche soziale und politische Machtverhältnisse. Diese lassen sich nicht auf Sprache reduzieren, können aber durch sprachliche Praktiken erhalten, konterkariert oder aufgebrochen werden.
Zugleich kritisiert Seel, wenn derartige Bemühungen in Dogmatismus umschlagen. Gelegentliche „Übertreibungen, sprachliche Verrenkungen und dogmatische Vorschriften bis hin zu der Forderung nach einem Umschreiben von Texten der Kinder- und Erwachsenenliteratur“ seien die „Kehrseite des ebenso rigiden Verlangens nach einer Reinhaltung der historisch entstandenen Sprachkultur.“
Der sprachpolitische Dogmatismus wie der grammatikalische Puritanismus bilden für Seel Extreme, die den Spielraum der Sprache auf Kosten der Freiheit der Rede einschränken. Eine lebendige, demokratische Sprache muss sich für ihn zwischen diesen beiden Polen bewegen. „Der Respekt vor menschlicher Diversität und derjenige für die Diversität der Arten des Sprachgebrauchs“, sagt er, „gehören zusammen“.
Seel plädiert daher für einen „sprachpolitischen Okkasionalismus“. Eine Haltung der Flexibilität, die versucht, mit unterschiedlichen Spielarten der differenzsensiblen Kommunikation den Anforderungen der jeweiligen Situation gerecht zu werden. Unterschiedliche Arten der mündlichen und schriftlichen Kommunikation verlangen unterschiedliche Konventionen, bieten eigene Möglichkeiten: „Politische Interventionen, Klatschgespräche, Vorträge, Zeitungsartikel, wissenschaftliche Abhandlungen, Stellenausschreibungen und amtliche Dokumente, Romane und Gedichte“, so Seel „müssen nicht über einen sprachlichen Kamm geschert werden.“