Seit dem ersten Tag des russischen Krieges in der Ukraine werden Vergleiche zum Beginn des Zweiten Weltkrieges gezogen und dabei mitunter „erschreckende Parallelen“ festgestellt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij verglich den russischen Angriff auf die Ukraine mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941. Auch bestimmte Parallelen zwischen Putin und Hitler werden benannt, unter anderem bei der Rechtfertigung des Angriffskrieges. Der britische Politikwissenschaftler Anatol Lieven hält dagegen, dass der Erste Weltkrieg eine weitaus sinnfälligere historische Analogie bildet. Und das unter mehreren Gesichtspunkten:
Sein erstes Argument lautet, dass keine seriösen Historiker/innen heute behaupten würden, der Erste Weltkrieg wäre notwendig und im Interesse aller Beteiligten gewesen. Es würde auch nicht argumentiert, dass die Fortsetzung des Krieges, um einen vollständigen Sieg zu erringen, notwendig oder klug gewesen sei, oder gar, dass der Versailler Vertrag für die Sieger und Besiegten positive Auswirkungen gehabt hätte. Alle herrschenden Eliten Europas hätten die Interessen ihrer Länder grundlegend und katastrophal verkannt. Das ist für Lieven der wichtigste Unterschied zum Zweiten Weltkrieg.
Zweitens, so Lieven, würden nur sehr wenige Historiker/innen heute Deutschland die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg geben. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine herrscht zwar in der westlichen Welt breiter Konsens darüber, dass die Hauptschuld dafür bei der russischen Regierung liegt. Fraglich sei aber, ob Historiker/innen der Zukunft das genauso sehen und die Regierungen der USA und der NATO-Mitglieder von jeglicher Mitverantwortung freisprechen werden. Sowohl Russland als auch westliche Expert/innen – einschließlich des heutigen
Drittens weist Lieven auf die Gefahr hin, berechtigte moralische Empörung in eine moralische Hysterie zu überführen, wie das während des Ersten Weltkriegs auch schon geschehen sei. Dies könnte die Suche nach einer Friedenslösung behindern, die letztendlich im Interesse aller Beteiligten, insbesondere aber der Zivilbevölkerung wäre.
Zum Schluss führt der Autor an, dass die Ukraine mit westlicher Hilfe bereits einen großen Sieg errungen und sich ihre Unabhängigkeit und Freiheit gesichert habe, um den Anschluss an den Westen zu suchen. Wenn die US-Regierung darüber hinausgeht und einen umfassenden militärischen Sieg inklusive Rückeroberung der Krim für die Ukraine anstrebt, käme das seiner Meinung nach einer Selbstüberhöhung gleich. Es braucht allerdings keine Lehren aus dem Ersten Weltkrieg, um festzuhalten, dass Selbstüberhöhung unweigerlich zur