2022 ist nicht 1945

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Anatol Lieven2022

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 07.12.2022

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 07.12.2022

Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg, sei es bei der Frage nach Putins Motiven oder der Ahndung russischer Kriegsverbrechen, sind im Diskurs zum Ukraine-Krieg omnipräsent. In diesem Fall sei jedoch die im Westen verwendete Analogie mit dem Zweiten Weltkrieg schlichtweg falsch, behauptet der britische Politikwissenschaftler Anatol Lieven. Seiner Meinung nach ließe sich der aktuelle Konflikt, wenn überhaupt, dann mit dem Ersten Weltkrieg vergleichen.

Seit dem ersten Tag des russischen Krieges in der Ukraine werden Vergleiche zum Beginn des Zweiten Weltkrieges gezogen und dabei mitunter „erschreckende Parallelen“ festgestellt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij verglich den russischen Angriff auf die Ukraine mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941. Auch bestimmte Parallelen zwischen Putin und Hitler werden benannt, unter anderem bei der Rechtfertigung des Angriffskrieges. Der britische Politikwissenschaftler Anatol Lieven hält  dagegen, dass der Erste Weltkrieg eine weitaus sinnfälligere historische Analogie bildet. Und das unter mehreren Gesichtspunkten: 

Sein erstes Argument lautet, dass keine seriösen Historiker/innen heute behaupten würden, der Erste Weltkrieg wäre notwendig und im Interesse aller Beteiligten gewesen. Es würde auch nicht argumentiert, dass die Fortsetzung des Krieges, um einen vollständigen Sieg zu erringen, notwendig oder klug gewesen sei, oder gar, dass der Versailler Vertrag für die Sieger und Besiegten positive Auswirkungen gehabt hätte. Alle herrschenden Eliten Europas hätten die Interessen ihrer Länder grundlegend und katastrophal verkannt. Das ist für Lieven der wichtigste Unterschied zum Zweiten Weltkrieg. 

Zweitens, so Lieven, würden nur sehr wenige Historiker/innen heute Deutschland die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg geben. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine herrscht zwar in der westlichen Welt breiter Konsens darüber, dass die Hauptschuld dafür bei der russischen Regierung liegt. Fraglich sei aber, ob Historiker/innen der Zukunft das genauso sehen und die Regierungen der USA und der NATO-Mitglieder von jeglicher Mitverantwortung freisprechen werden. Sowohl Russland als auch westliche Expert/innen – einschließlich des heutigen CIA-Chefs William Burns – hätten beispielsweise eindringlich davor gewarnt, die Ukraine in den Westen zu integrieren und von Moskau als lebenswichtig benannte Interessen zu ignorieren. 

Drittens weist Lieven auf die Gefahr hin, berechtigte moralische Empörung in eine moralische Hysterie zu überführen, wie das während des Ersten Weltkriegs auch schon geschehen sei. Dies könnte die Suche nach einer Friedenslösung behindern, die letztendlich im Interesse aller Beteiligten, insbesondere aber der Zivilbevölkerung wäre.

Zum Schluss führt der Autor an, dass die Ukraine mit westlicher Hilfe bereits einen großen Sieg errungen und sich ihre Unabhängigkeit und Freiheit gesichert habe, um den Anschluss an den Westen zu suchen. Wenn die US-Regierung darüber hinausgeht und einen umfassenden militärischen Sieg inklusive Rückeroberung der Krim für die Ukraine anstrebt, käme das seiner Meinung nach einer Selbstüberhöhung gleich. Es braucht allerdings keine Lehren aus dem Ersten Weltkrieg, um festzuhalten, dass Selbstüberhöhung unweigerlich zur Nemesis führt.

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Im Jahr 2008 schrieb der US-Diplomat William Burns in einem Memo an die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice: „Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist die klarste aller roten Linien für die russische Elite (nicht nur für Putin). In mehr als zweieinhalb Jahren Gesprächen mit wichtigen russischen Akteuren (…) habe ich noch niemanden gefunden, der den Beitritt der Ukraine zur NATO nicht als eine direkte Herausforderung für russische Interessen ansieht.“

Nemesis war im griechischen Götterglauben die Göttin der gerechten Vergeltung. Stets begleitet durch die Göttin der Scham, strafte Nemesis im Speziellen die menschliche Selbstüberschätzung.

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