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Sorglosigkeit ist fehl am Platz

Re-Paper
Meredith Winn2020

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Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 05.04.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/d2zc-zj41

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 05.04.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/d2zc-zj41

Italien, Ungarn, Finnland – rechtspopulistische Parteien erzielen in Europa nicht nur reihenweise gute Umfrage- und Wahlergebnisse, sie tragen auch Regierungsverantwortung. Kollabiert ist deswegen noch kein Staat und auch die Europäische Union steht noch. Sorglosigkeit ist trotzdem nicht angebracht, denn die radikalen Kräfte setzen ihre Agenda durch, wenn sie genug Einfluss haben. Das zeigt ein Blick auf die Migrations- und Sozialpolitik in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. 

Die Frage, wie sich Politik verändert, wenn Rechtsaußenparteien Parlamentssitze gewinnen oder an Regierungen beteiligt sind, treibt die sozialwissenschaftliche Forschung seit Jahren um. Ein Politikfeld, auf dem ein Einfluss rechtspopulistischer bis rechtsradikaler Parteien zu erwarten ist, ist die Migrationspolitik. Hier zeigen sich trotz aller Versuche, die Anerkennungspraxis im Rahmen der Europäischen Union zu vereinheitlichen, teilweise starke Schwankungen der Asylanerkennungsquoten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Während etwa Schweden zwischen 2000 und 2018 eine durchschnittliche Anerkennungsquote von 35,9% aufweist, liegt diese im Nachbarland Dänemark bei 43,1%. In Kroatien wurden nur knapp 5% der Asylanträge positiv beschieden, in den Niederlanden hingegen rund 40%. 

Laut der Politikwissenschaftlerin Meredith Winn sind die Zusammensetzung nationaler Parlamente und Regierungen wesentlich für diese Schwankungen verantwortlich. Andere Faktoren spielten zwar ebenfalls eine Rolle – beispielsweise die Wirtschaftskraft der untersuchten Staaten (je stärker, desto höher die Quote) oder die Zahl der gestellten Anträge (je höher, desto niedriger die Quote) – könnten die variierenden Zahlen aber nur bedingt erklären. Das gilt auch für die Herkunftsländer der Antragstellenden. Würden beispielsweise in Frankreich nur Menschen aus gefestigten Demokratien Anträge auf Asyl stellen, in Belgien hingegen nur Menschen aus Bürgerkriegsländern, dann wäre eine deutlich höhere Anerkennungsquote in Belgien wenig verwunderlich. Tatsächlich, so Winn, schwankten die Zahlen zwischen den Staaten aber auch beim Blick auf Antragstellende aus denselben Herkunftsländern. So wurden Anträge von Menschen aus Syrien 2018 in Schweden in rund 80% der Fälle positiv beschieden, in Spanien lag die Anerkennungsquote dagegen bei über 90%. 

Winn selbst geht nicht auf die einzelnen Fälle ein, sondern beschränkt sich auf die statistische Analyse. Hierbei zeigt sich, dass eine direkte Regierungsbeteiligung von Rechtsaußenparteien einen größeren Einfluss auf etwaige Politikwechsel hat als ein Zugewinn an Parlamentssitzen. Allerdings hat auch Letzterer Auswirkungen, wie beispielsweise der schwedische Fall verdeutlicht. Dort hatten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten bei den Parlamentswahlen 2014 deutlich an Stimmen gewonnen (von 5,7 auf 12,9%) – und legten angesichts steigender Geflüchtetenzahlen nach 2015 in Umfragen weiter zu. Die regierende Koalition aus Grünen und Sozialdemokraten reagierte unter anderem, indem sie das Asylrecht massiv verschärfte und damit eine Politik betrieb, die die Schwedendemokraten seit Jahren gefordert hatten. Die Regierung begründete dies mit den gestiegenen Antragszahlen, Expert*innen wie die schwedische Politikwissenschaftlerin Kristina Boréus und der Autor Jesper Bengtsson argumentieren aber, dass ein solcher Kurswechsel ohne die stärker werdenden Schwedendemokraten nicht zustande gekommen wäre. Ein solch indirekter Einfluss rechtspopulistischer Parteien auf die Regierungspraxis ließ sich in der jüngeren Vergangenheit auch in Deutschland beobachten.

Geld für den alten weißen Mann – Kürzungen für den Rest

Auch wenn der Migrationspolitik aufgrund der nationalistischen Ausrichtung von Rechtsaußenparteien eine Sonderrolle zukommt, ist sie nicht das einzige Politikfeld, auf das diese Parteien Einfluss nehmen, sobald sie dazu in der Lage sind. Auch die Sozialpolitik verändert sich, wenn radikale rechte Parteien an Regierungen beteiligt sind. Das zeigt die Politikwissenschaftlerin Juliana Chueri, die an der VU Amsterdam lehrt und forscht1.

Laut Chueri hat sich die grundlegende Haltung der Rechtspopulist*innen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen über die Zeit gewandelt. Plädierten viele Parteien in der Vergangenheit für einen Abbau des Sozialstaats und hingen wirtschaftsliberalen Positionen an, so wurden sie über die Jahre zu Anhänger*innen einer selektiven Wohlfahrtsstaatlichkeit. Das bedeutet, soziale Sicherung sollte nun nicht mehr per se abgebaut werden, sondern nur noch denen zugutekommen, die diese auch „verdient“ hätten2. Beobachten lässt sich diese Verschiebung unter anderem am Beispiel des französischen Rassemblement National. Dort wurden neoliberale Positionen in den vergangenen Jahren fast vollständig zurückgedrängt. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf versprach Marine Le Pen die Rente mit 60 nach 40 Arbeitsjahren, wollte mit Steuererhöhungen Finanzspekulationen eindämmen und den sozialen Wohnungsbau fördern – das alles freilich gekoppelt an eine Beschränkung von Zuwanderung und versehen mit dem Zusatz der „nationalen Priorität“ bei Sozialleistungen. 

Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf die AfD beobachten. Zwar hat sich die neo- beziehungsweise ordoliberale Ausrichtung der Partei seit ihrer Gründung nicht grundlegend verändert – auch heute tritt die AfD für eine Reduzierung der Steuerlast, Entbürokratisierung, Wettbewerb und Leistungsgerechtigkeit ein. Allerdings wurde dieses Profil um sozialstaatliche Positionierungen ergänzt, nicht zuletzt durch das Wirken des Höcke-Flügels. Dieser forderte unter dem Schlagwort des „solidarischen Patriotismus“ eine autoritär abgesicherte Solidarität für „uns Deutsche“. 

All diese Verschiebungen sind für Chueri als Versuch zu verstehen, zwischen Menschen, die Solidarität verdienten und solchen, auf die dies nicht zutrifft, zu unterscheiden. Diese Denkfigur fügt sich einerseits in den Nationalismus ein, dem die Rechtsaußenparteien anhängen. Andererseits eröffnet er ihnen politischen Handlungsspielraum. Koalitionsfähig sind die Rechtspopulist*innen nämlich, wenn überhaupt, nur mit traditionellen Mitte-Rechts-Parteien, und diese vertreten im Normalfall wirtschaftsliberale Positionen. Die selektive Wohlfahrtsstaatlichkeit der Rechtsaußenparteien ermöglicht es ihnen, sozialstaatliche Leistungen in der Gesamtheit zu kürzen, ohne die sozialen Versprechen an die eigene autochthone Wähler*innenbasis brechen zu müssen. Tatsächlich, so Chueri, führe die Regierungsbeteiligung von radikalen rechten Parteien zu einem Schrumpfen des Sozialstaates. Die Einsparungen seien allerdings alles andere als zufallsverteilt. Rentenkürzungen würden von Rechtsaußenparteien beispielsweise abgelehnt, wohingegen Kürzungen, die Asylbewerber*innen oder Langzeitarbeitslose treffen, befürwortet würden. Das führt die Politikwissenschaftlerin darauf zurück, dass letztere Personengruppen von Rechtspopulist*innen der Solidarität nicht als würdig angesehen würden.

Rechtsaußenparteien, das zeigen beide Studien, machen einen Unterschied. Das sollte nach vielen Jahren rechtspopulistischer Erfolge in Europa auch den Wählenden klar sein. Natürlich ist es in Demokratien jeder*m Bürger*in freigestellt, an der Wahlurne Denkzettel zu verteilen. Man sollte dann aber so ehrlich sein, anzuerkennen, dass der Denkzettel für unbeteiligte Dritte ein Leben im Gefängnis, in dauerhafter Armut oder gar den Tod bedeuten kann.

Fußnoten
2

Juliana Chueri: Social policy outcomes of government participation by radical right parties. In: Party Politics 27, Nr. 3, 2021, S. 1094-1104.

Ebd., S. 1095.

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