Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die Rolle einzelner Fachdisziplinen, die ihre jeweils unterschiedlichen Erklärungen für diese Katastrophe liefern, des Öfteren kritisch hinterfragt worden. Das betrifft sowohl die Osteuropaforschung als auch die Friedens- und Konfliktforschung. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Walt schaut auf die Disziplin der Internationalen Beziehungen und bewertet, inwieweit sich einige ihrer gängigen Theorien dazu eignen, den Ukraine-Krieg zu erklären.
Zunächst richtet er seinen Blick auf die beiden größten Theorien:
Auch die rasche westliche Reaktion auf die russische Invasion steht für Walt im Einklang mit einem realistischen Verständnis von Allianzpolitik: Gemeinsame Werte können den Zusammenhalt und die Dauerhaftigkeit von Bündnissen erhöhen, aber ernsthafte Verpflichtungen zur kollektiven Verteidigung ergeben sich in erster Linie aus der Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung.
Im Gegensatz dazu habe sich die liberale Theorie der Internationalen Beziehungen nicht bewährt. In der Tat waren weder das Völkerrecht noch die internationalen Institutionen imstande, die Invasion Russlands zu verhindern. Die Verurteilung der Invasion durch die UN-Generalversammlung mit einer deutlichen Mehrheit von 141 Staaten am 2. März 2022 konnte deren Verlauf ebenso wenig beeinflussen. Die wirtschaftlichen Interdependenzen und die Sanktionsrisiken haben Moskau auch nicht davon abgehalten, den Krieg zu beginnen. Andererseits argumentiert Walt, dass, wenn es Institutionen wie die Nato nicht gegeben hätte, die westliche Reaktion nicht einmal annähernd so schnell und wirksam ausgefallen wäre. Die gemeinsamen Werte, die die USA und ihre Nato-Verbündeten teilen, haben sie in der Notwendigkeit einer geschlossenen Reaktion erheblich bestärkt. In dieser Hinsicht hat sich der vom Liberalismus betonte Mehrwert von Institutionen und ihrer verbindenden Kraft zum Teil also doch bestätigt.
Sowohl Realismus als auch Liberalismus gehen von der grundsätzlichen Rationalität der außenpolitischen Akteure aus. Putins Invasionsentscheidung ungeachtet möglicher wirtschaftlicher Verluste zeugt Walt zufolge jedoch eher vom Gegenteil. Außerdem würde niemand einen Krieg beginnen, von dem er glaubt, dass er lang, blutig und teuer sein wird und nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Putin scheint sich verkalkuliert zu haben: Er unterschätzte die ukrainische Entschlossenheit, überschätzte die Fähigkeit seiner Armee und schätzte die Reaktion des Westens falsch ein.
Die Grundannahmen des Realismus legen allerdings nahe, warum Kriege schwer zu beenden sind. Stephen Walt hebt das Verpflichtungsproblem hervor: In einer anarchischen Welt können Staaten nämlich nie sicher sein, dass andere ihre Versprechen halten werden.
Der auch noch nach über einem Jahr Krieg gültige Appell des Artikels von Walt ist: Gerade in Kriegszeiten sollte man versuchen, Übertreibungen und vereinfachende Erklärungsmuster zu vermeiden und vor allem die Möglichkeit zuzulassen, dass die bedienten analytischen Zugänge der eigenen Fachdisziplin nur Teilaspekte, aber niemals das große Ganze dieses Krieges erfassen können.