Teresa Vicente Giménez freut sich. Nach jahrzehntelanger Lobbyarbeit, unzähligen Vorträgen und zähen Diskussionen hat sie es geschafft: Das Mar Menor hat Rechte. Vicente Giménez ist Professorin für Rechtsphilosophie an der Universität Murcia im Südosten Spaniens. Die Hauptstadt der gleichnamigen Region liegt etwa 40 Autominuten vom Mar Menor entfernt, einer der größten Salzwasserlagunen Europas. Seit jeher ist das wörtlich übersetzte „kleine Meer“ – ein Name, der die Lagune von ihrer großen Schwester, dem Mittelmeer, unterscheidet – ein beliebtes Urlaubsziel. Neben Dörfern, Stränden und Flamingos säumen dessen Küsten auch zahlreiche Landwirtschaftsplantagen. Aufgrund der intensiven Bewässerung und dem Einsatz von Düngemittel ist die Umwelt dort stark belastet. Das sorgt seit längerem für wachsenden Unmut.
Alle bisherigen Versuche, das maritime
Ist der Mensch nicht auch Natur?
Es gibt eine Reihe guter Gründe, warum der Unterschied, für wen man die Natur schützt, wichtig ist. Die aktuelle ethische und rechtsphilosophische Debatte begann vor etwas mehr als 50 Jahren. Damals überlegte Christopher Stone, Professor für Recht an der University of Southern California, ob ein Naturpark auch ohne Rückgriff auf menschliche Interessen schützenswert sei. Zur etwa gleichen Zeit arbeitete Godofredo Stutzin, ein deutsch-chilenischer Anwalt, in Südamerika an ähnlichen Ideen. Während Stone seine Logik auf westlichen Traditionen aufbaute, bezog sich Stutzin auf indigene Philosophien. Beide Autoren einte die Überzeugung, dass der nicht-menschlichen Natur ein Wert inne liegt, der sich nicht auf den Menschen zurückführen lässt.
Diese Intuition veranschaulicht das Gedankenexperiment Last Man des Philosophen und Umweltschützers Richard Sylvan. In diesem fordert er auf, sich den letzten Menschen auf Erden vorzustellen. Dieser beginnt vor seinem Tod seine Umwelt wahllos zu zerstören: Wälder zu roden, Tiere zu töten und Flüsse zu vergiften. Da er weder sich selbst noch anderen Menschen mit seinem Verhalten schadet, sollte diese Zerstörungswut nach gängigen Moralvorstellungen kein Problem darstellen. Trotzdem fühlt es sich falsch an. Aber warum? Für Sylvan ist diese Intuition der Beweis, dass es Werte gibt, die unabhängig vom Menschen existieren.
Dass der Mensch nicht den Mittelpunkt des Universums bildet, weiß die Astronomie seit Kopernikus und Galileo. Mit Darwin und Wallace hat die Biologie erkannt, dass sich Menschen aus derselben Ursuppe wie alles andere Leben entwickelt haben.
Das Problem: Obwohl die Argumente einer grundlegenden Gleichheit zwischen den Menschen und ihrer Umwelt überzeugend sind, haben sie bisher keinen Einzug in vorherrschende Moralvorstellungen und Gesetzestexte gefunden. Dort bleibt der Mensch weiterhin die Krone der Schöpfung sowie die
Sind alle Menschen aber genug? In den 80er Jahren stellte sich der Philosoph Peter Singer die Frage, wer sonst noch Teil der moralischen Gemeinschaft sein sollte. Für ihn zählen alle Lebewesen, die leiden können. Auch sie sollten in den sich ständig erweiternden Einflussbereich, den er den „wachsenden Kreis moralischer Überlegungen“ nannte, aufgenommen werden.
Rechte auf Basis von Menschsein oder Schmerzempfinden sind dabei sicherlich intuitiver zu verstehen und zu akzeptieren als Rechte auf Basis von Ökosystemen. Doch gerade darin liegt die Crux. Wichtig ist es, auch den Wert nicht-menschlicher Eigenschaften anzuerkennen. Anders gesagt, ist es nicht ein Zufall, dass eben jene Charakteristiken, die den Mensch im besten Licht darstellen, auch jene sind, die intuitiv als am moralisch relevantesten gelten: Intelligenz, Sprache, Bewusstsein… überall ist der Mensch das Nonplusultra. Je mehr Schmerzempfinden ein nicht-menschliches Tier hat, desto moralisch relevanter ist es; je menschlicher die nicht-menschliche Natur ist, desto wichtiger ist sie.
In der Tat, viele Tierrechtler*innen beziehen sich bei ihrer Suche nach Argumenten, dass Tiere Rechte haben sollten, auf eindeutig menschliche Eigenschaften. Der Präsident des einflussreichen Tierrechts-Vereins „Nonhuman Rights Project“ Steven Wise zum Beispiel beschreibt eine Werteskala zwischen 0.00 und 1.00. Auf der Grundlage ihrer psychologischen Fähigkeiten werden alle Tiere auf dieser Skala eingeordnet, ein voll leistungsfähiger erwachsener Mensch gilt als 1.00. Die Rechte der Natur versuchen diese Reproduktion des menschlichen Bezugspunktes aufzubrechen beziehungsweise ihn zumindest zu relativieren. Der Mensch ist durchaus einzigartig. Heuschrecken aber auch. Und Flüsse ebenso. Obwohl ein Ökosystem weder intelligent noch leidensfähig ist, hat es durch seine Einzigartigkeit dennoch ein „Recht auf Existenz“.
So wie die Tierrechte stehen auch die Rechte der Natur einer überwältigenden Mehrheit an Gesetzen gegenüber, die immer noch auf
Mehr als eine vielversprechende Theorie
Zugegeben, es ist nicht nichts passiert. Obwohl Stones und Stutzins Ideen einer Natur mit Rechten über Jahrzehnte hinweg höchstens einer akademischen Nische bekannt waren, änderte sich dies insbesondere Ende der 2000er Jahre. Zu dieser Zeit ist das Bewusstsein über zahlreiche Umweltkrisen bedeutend gewachsen. Zyniker mögen behaupten, dass aus dem Grund auch so abwegigen Ideen wie jenen der Rechte der Natur Gehör geschenkt wurden. Und dieses Urteil ist nicht ganz falsch. Vicente Giménez kämpfte bereits seit Jahrzehnten für die Rechte des Mar Menor. Schlussendlich führten aber erst zwei Massensterben des lokalen Fischbestandes in den Jahren 2019 und 2021 dazu, dass ein gesetzgebendes Referendum einberufen wurde. Krisen schaffen Möglichkeiten.
In der Theorie befasst sich eine wachsende Zahl an Disziplinen mit den Rechten der Natur: die Philosophie, Politische Theorie, Rechtswissenschaften, Geographie, Anthropologie, Theologie und Politische Ökologie. Sie untersuchen unter anderem Rechts- und Wertetheorien, aber auch die Frage, um welche Natur es gehen soll (Identifikation), wer in ihrem Namen sprechen darf (Repräsentation) und wie man menschliche mit nicht-menschlichen Interessen abwägt (Partizipation und Deliberation)? Die derzeitige Diskussion im deutschsprachigen Raum befasst sich insbesondere mit dem Einfluss der Rechte der Natur auf Privateigentum und den Verfassungsstaat, aber auch mit indigenen Perspektiven.
Auch die Rechtspraxis stößt ständig neue Entwicklungen an. Ab 2006 häuften sich in den USA lokale Gesetze, die Grundwasserquellen durch ein „Recht auf Existenz“ vor
Der Mehrwert der Rechte der Natur
Die vielen Debatten und Initiativen mögen durchaus spannend sein, möchte man jetzt denken, aber ist es am Ende nicht einerlei? Polkappen sollen aufhören zu schmelzen, Vögel weiterhin zwitschern und die Meere plastikfrei sein. Zu viele Diskussionen lenken die Aufmerksamkeit von dem ab, was wirklich zählt: ein effektiver Naturschutz. Dieser Ansicht ist auch Bryan Norton, der in seiner „Convergence Theory“ argumentiert, dass Ideen, die einerseits den Menschenrechten, andererseits den Rechten der Natur nahestehen, schlussendlich auf dasselbe Ziel hinauslaufen (to converge).
Norton hat dabei ein durchaus starkes Argument. Das Klima, Tierarten oder Ozeane brauchen keine eigenen Rechte, um geschützt zu werden. Der traditionelle Naturschutz bietet genug Voraussetzungen dafür. Der eigentliche Mehrwert der Rechte der Natur liegt aber nicht beim Schutz, sondern bei der Diskussion über den Schutz. Der Vorteil, Mitglied der bereits erwähnten moralischen Gemeinschaft zu sein, liegt darin, dass nicht über jemandes Kopf (oder Fühlern) hinweg entschieden wird, sondern dass die jeweilige Natur Mitbestimmungsrechte für ihre eigene Existenz hat. Ein weiteres Gedankenexperiment hilft, die Wichtigkeit dieses Punktes zu veranschaulichen.
Man stelle sich eine Welt vor, in der alle Geschlechter vollkommen gleichgestellt sind: gleiche Chancen, gleiche Löhne, gleiches Leben. Es gibt nur einen Unterschied: Für den nicht-männlichen Teil der Bevölkerung existiert nur eine indirekte Garantie, dass diese Gleichstellung weiterhin bestehen bleibt. Sie ist lediglich das Ergebnis eines männlichen Rechts auf ein gleichgestelltes Gegenüber. Wie beim Last Man fühlt sich auch bei dieser Vorstellung irgendetwas nicht richtig an. Diese Intuition speist sich aus dem Verständnis, dass die emanzipatorische Kraft von Eigenrechten ein wichtiger Bestandteil einer gerechten Gesellschaft ist. Indirekte Garantien reichen hierfür schlicht nicht aus.
Zugegeben, mehr Rechtsträger*innen verkomplizieren Entscheidungsfindungen. Sie machen diese jedoch nichtsdestotrotz gerechter – und sind deshalb Alternativen vorzuziehen. Mit den Rechten der Natur verhält es sich genauso. Es geht um die rechtliche Absicherung einer „natürlichen“ Emanzipation und somit einer gerechten Ko-Existenz von Mensch und Umwelt.
Ein Erfolgsrezept
Die Rechte der Natur fügen sich ein in ein hochkomplexes moralisches und rechtliches Gefüge. Sie interpretieren traditionelle Konzepte neu, laufen aber auch Gefahr, deren Probleme zu reproduzieren: Welche Natur soll geschützt werden? Wie weit können deren Interessen wirklich erkannt werden? Sind Rechte das richtige Werkzeug? Das Erfolgsgeheimnis liegt in einer vorsichtigen, aber durchaus durchdachten und bestimmten Anerkennung von neuen Inhalten in existierenden Kontexten. Die Rechte der Natur sind aber kein Wundermittel. Ein gerodeter Wald wird durch Rechte nicht wieder aufgeforstet. Ein totes Tier wird durch Rechte nicht wiederbelebt. Ein vergifteter Fluss wird mit Rechten nicht wieder sauber. Eingebettet in existierende Strukturen hat die Idee aber das Potential, Machtverhältnisse durch ihre bloße Existenz in Frage zu stellen – und bestenfalls zu ändern.
In Europa ist das Mar Menor das erste und bisher einzige Ökosystem mit national verankerten Rechten. Diese Pionierposition hat das Bewusstsein in der Region bereits erkennbar verändert: Die Universität von Murcia bietet regelmäßig Seminare und Infoveranstaltungen zu den Rechten der Natur an. Auch die übermäßige Bewässerung der umliegenden Felder hat abgenommen. Ein Hauptgrund dafür ist, dass manche Bäuer*innen auf nachhaltigere Landwirtschaft setzen. Ob diese Entwicklung nun direkt auf den neuen Rechtsstatus zurückzuführen oder einem allgemeineren Umdenken zu verdanken ist, lässt sich nicht endgültig feststellen. Eines jedoch wird immer klarer: Auf die Frage, für wen wir die Natur schützen, lautet die Antwort ganz natürlich: für uns. Nur ist dieses „wir“ und dieses „uns“ bedeutend inklusiver als bisher angenommen.