Am 20. Juni 2023 hat die Europäische Kommission ein eigenes Finanzierungsinstrument vorgeschlagen, um den Wiederaufbau und die Modernisierung der kriegszerstörten Ukraine mit rund 50 Milliarden Euro für die Jahre 2024-2027 zu unterstützen. Auch andere Staaten, allen voran die USA, haben einen Tag später auf der Geberkonferenz für die Ukraine in London mehrere Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Laut den Ökonom:innen Joop Adema, Yvonne Giesing, Tetyana Panchenko und Panu Poutvaara vom ifo-Institut für Wirtschaftsforschung habe neben der staatlichen Auslandshilfe auch die global vernetzte ukrainische Diaspora das Potenzial, einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten.
Diese Hoffnung stützt sich auf die internationale Forschung zu sogenannten Rücküberweisungen (eng. remittances), die in verschiedenen Regionen der Welt positive Effekte in finanzieller, sozialer und sogar politischer Hinsicht nachgewiesen hat.
Folgt man der Annahme, dass Diasporagemeinschaften eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und dem Wiederaufbau von Kriegsregionen spielen, so sind die Voraussetzungen in der Ukraine äußerst günstig: Aufgrund ihrer langen Emigrationsgeschichte zählte die ukrainische Diaspora bereits vor der russischen Invasion im Jahr 2021 über 20 Millionen Menschen in mehr als 60 Ländern weltweit. Neben Russland gehören vor allem Nordamerika, Südamerika und Moldawien zu den wichtigsten Zielländern.
Seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine ist die ukrainische Zuwanderung auch nach Europa rasant angestiegen. Statistiken der Europäischen Kommission zufolge hätten sich bereits im Jahr 2020 mehr als 1,3 Millionen Ukrainer*innen in der Europäischen Union befunden, vor allem in Polen, Italien, Deutschland, Spanien und Tschechien. Infolge der russischen Invasion sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks inzwischen mehr als acht Millionen Menschen in europäischen Staaten als Flüchtlinge registriert.
Und auch wenn die zahlenmäßige Bestimmung der ukrainischen Diaspora aufgrund der Definition dieser Gruppe problematisch ist, zeigt allein die Höhe der offiziell registrierten Rücküberweisungen in die Ukraine von mehr als 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021, wie bedeutend die Gruppe der im Ausland lebenden Ukrainer:innen ist. Mit diesem Wert ist die Ukraine laut den ifo-Forscher:innen Spitzenreiter in Europa und Zentralasien, was finanzielle Rücküberweisungen angeht.
In diesem Kontext muss auch die optimistische These der Autor:innen gelesen werden, dass die Massenauswanderung aus der Ukraine langfristig nicht etwa zu einem massiven
Um den Beitrag der ukrainischen Diaspora zum Wiederaufbau optimal nutzen zu können, so die ifo-Forscher:innen, müsse auch die Politik der Aufnahmeländer in die Pflicht genommen werden. Um finanzielle Rückflüsse und Investitionen in die Ukraine zu steigern, sollten die Aufnahmeländer eine qualifikationsadäquate Arbeitsmarktintegration der Ukrainer:innen vorantreiben, anstatt sie einfach als gering qualifizierte Arbeitskräfte einzusetzen. Dazu seien vor allem Sprachförderung, Ausbildungs- und Praktikumsangebote sowie Unterstützung bei der Arbeitssuche notwendig. Außerdem sei die schnelle Anerkennung von Qualifikationen wichtig, um das Humankapital der ukrainischen Arbeitskräfte auszuschöpfen. Nach dem Krieg müsse dann die Rückkehr der Ukrainer:innen ermöglicht werden, damit diese mit ihrem neu erworbenen Wissen die Entwicklung im Land vorantreiben, zum Beispiel durch die Gründung von Start-Ups. Inwieweit dieser optimistische Plan angesichts der ungewissen Kriegsdynamik, den traumatischen Kriegserfahrungen vieler Ukrainer:innen und der bislang fehlenden politischen Vision zur Wahrung der ukrainischen Sicherheitsinteressen gegenüber Russland aufgeht, bleibt abzuwarten.