Chance verspielt? Warum die EU auf dem Westbalkan mittlerweile unerwünscht ist

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Chance verspielt? Warum die EU auf dem Westbalkan mittlerweile unerwünscht ist

»From Fatigue to Resistance: EU Enlargement and the Western Balkans«

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Geschrieben von Laura Worsch

Bei te.ma veröffentlicht 14.08.2023

Geschrieben von Laura Worsch
Bei te.ma veröffentlicht 14.08.2023

Seit mehr als 20 Jahren besteht für die Länder des Westbalkans eine EU-Beitrittsperspektive. Nach der „Big Bang“-Osterweiterung 2004 entwickelte sich innerhalb der EU jedoch eine Erweiterungsmüdigkeit. Mittlerweile, so die Analyse des Politikwissenschaftlers Spyros Economides, gehe der Widerstand gegen die EU aber maßgeblich von den Westbalkanstaaten selbst aus. Dahinter steckten nicht nur mangelnde Reformen in den Beitrittsländern, sondern auch die schwindende Anziehungskraft der EU.

Die Länder des westlichen Balkans, zu denen Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Albanien, der Kosovo und Nordmazedonien gehören, waren nie Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), unter anderem weil ihnen schon Mitte der 1990er Jahre eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde. Mit der 2022 verabschiedeten Verleihung des Beitrittskandidatenstatus an die ENP-Länder Ukraine und Republik Moldau schwindet die klare Abgrenzung zwischen ENP und Erweiterungspolitik. Was kann die EU aus dem ruhm- und erfolglosen Integrationsprozess der Westbalkan-Staaten lernen? Spyros Economides beleuchtet, warum sich die großen Hoffnungen, die mit der Erweiterungsperspektive verbunden wurden, mittlerweile zu einem zunehmenden Widerstand gegen die EU-Integration gewandelt haben.

Die  Erweiterungsmüdigkeit nach der Osterweiterung, so Economides, war vor allem von der Sorge geprägt, die Aufnahme weiterer Mitglieder würde die Institutionen und Prozesse der EU überfordern.1 Heute hingegen komme der Widerstand vor allem aus der Region selbst. Er zeige sich in der Unfähigkeit und dem fehlenden Willen, die für einen EU-Beitritt notwendigen Reformen durchzuführen. Das zentrale Merkmal dieses neuen Widerstands ist Economides zufolge ein tiefer Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Legitimität der EU.2 Dieser Zweifel werde nicht nur von außen an die Union herangetragen, sondern lasse sich seit Jahren auch innerhalb der EU beobachten. Dies verdeutlichte unter anderem die  Migrations- und Eurokrise. Die Folgen seien Desintegration und Fragmentierung, wie ultimativ durch den EU-Austritt Großbritanniens sichtbar wurde.

Die internen Probleme der EU sind einer von drei Gründen, die Economides als Erklärung für den Widerstand und den stagnierenden Beitrittsprozess der Westbalkanländer anführt. Letztere fragen sich immer mehr, warum sie Zeit und politische Ressourcen  in den Beitritt zu einer – zugespitzt formuliert – zunehmend dysfunktionalen EU investieren sollten. Auch die Reformvorschläge zu einer EU der verschiedenen Geschwindigkeiten oder die graduelle Integration der Länder in verschiedene Politikbereiche seien für diese kaum attraktiv. Dabei ist Economides’ Perspektive vergleichsweise pessimistisch. Denn gerade im Vorschlag einer selektiven Einbeziehung von Partnerländern liegt für diese eine Chance, wichtige EU-Politiken mit zu beeinflussen, anstatt nur von ihnen absorbiert zu werden.

Ein zweiter Grund für den wachsenden Widerstand gegen die Erweiterung sei die bisherige Demokratieförderung der EU in der Region: Diese habe nach den Jugoslawien-Kriegen eher auf Stabilisierung als Demokratisierung gesetzt und damit implizit die Bildung semi-autokratischer Regierungen gestützt. Ähnliche Kritik erfährt die EU bezüglich ihrer Nachbarschaftspolitik in Nordafrika, wo ihre Kooperation mit autoritären Regierungen im Gegenzug für scheinbare demokratische Reformen zu einem Vertrauensverlust der Bevölkerungen gegenüber der EU geführt hat. Auch in den Gesellschaften des Westbalkans drohe der EU mittlerweile ein Verlust ihrer Glaubwürdigkeit: Unerfüllbar scheinen die Anforderungen der Stabilisierungs- und Assoziierungsprogramme, die beispielsweise regionale Zusammenarbeit zwischen historisch konfliktbehafteten Ländern verlangen. Einer Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2023 zufolge liegt das Vertrauen der Gesellschaften des Westbalkan in die EU im Schnitt bei 47 Prozent, wobei Kosovo mit 63 Prozent den höchsten und Serbien mit 32 Prozent den niedrigsten Wert zeigt.

Zuletzt würden Autorität und Einfluss der EU auf dem Westbalkan zunehmend von Drittstaaten wie China, Russland oder den Golfstaaten eingeschränkt. So finanziere Saudi-Arabien etwa neue Moscheen in Bosnien und Herzegowina, was in Westeuropa Sorge vor islamischer Radikalisierung und zunehmendem Dschihadismus schüre. Economides’ Analyse verdeutlicht somit, wie die mutmaßliche Inkompatibilität von Islam und Demokratie, die auch andere Autor:innen untersuchen, die EU offenbar in verschiedenen Regionen daran hindert, einen nachhaltigen demokratischen Wandel hervorzurufen.

Als besonders problematisch für die Erweiterungspolitik der Union sieht Economides das democratic backsliding, also die demokratischen Rückschritte einiger EU-Mitglieder, allen voran Ungarns und Polens.3 Diese Form der non-compliance (dt.: Nicht-Einhaltung) von EU-Normen und Gesetzen unterminiere die Legitimität der Union auch in den Beitrittsländern. Insbesondere der fehlende Wille führender Eliten könne zu einer Infragestellung des EU-Beitrittsprozesses führen, wenn diese eine Einschränkung des eigenen Einflusses fürchteten. Dieser interessengeleitete Widerstand gegen die EU ist eine wichtige Ergänzung zur Untersuchung von Dandashly und Noutcheva: Diese sehen lokale und nationale Eliten als Wächter:innen des nationalen Wertekanons, der im Konfliktfall gegen externe, nicht kompatible Einflüsse verteidigt werden müsse.4

Was ist Europa? Und wer ist europäisch? Dies sind Economides zufolge die zwei Fragen, die die aktuelle Krise der EU definieren. Die Lösung sieht er sowohl in strukturellen Reformen als auch in einer anderen Rhetorik: Zum einen böte ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten einen Ausweg, gepaart mit höherer Transparenz und einer weichen Konditionalität. Zum anderen könne ein „prinzipiengeleiteter Pragmatismus“ die Vorstellung einer „normativen Macht Europa“ ablösen,5 deren Glaubwürdigkeit sowohl gegenüber ihren Nachbarstaaten als auch den eigenen Mitgliedern stark gelitten habe. Damit dieser Pragmatismus funktioniere, müsse er auf einer klaren politischen Sprache, einer besseren Kontrolle der eigenen Politik und zusätzlichen finanziellen Anreizen für beitrittwillige Staaten untermauert werden.

Fußnoten
5

Anna Szołucha: The EU and Enlargement Fatigue: Why has the European Union not been able to counter enlargement fatigue? In: Journal of Contemporary European Research. Band 6, Nr. 1, 2010 https://doi.org/10.30950/jcer.v6i1.124 .

David Beetham: Legitimacy and the European Union. Taylor and Francis, Hoboken 2014, ISBN 9780582304895

Nick Sitter und Elisabeth Bakke: Democratic Backsliding in the European Union. In: William R. Thompson (Hrsg.). Oxford Research Encyclopedia of Politics. Oxford University Press, New York 2014-, ISBN9780190228637. https://oxfordre.com/politics/display/10.1093/acrefore/9780190228637.001.0001/acrefore-9780190228637-e-1476

Assem Dandashly und Gergana Noutcheva: Conceptualizing norm diffusion and norm contestation in the European neighbourhood. Introduction to the special issue. In: Democratization. Band 29, Nr. 3, 2022, S. 415–432. https://doi.org/10.1080/13510347.2021.2012161 

Ian Manners: Normative Power Europe. A Contradiction in Terms? In: JCMS: Journal of Common Market Studies. Band 40, Nr. 2, 2002, S. 235–258. https://doi.org/10.1111/1468-5965.00353.  

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Als Konditionalität bezeichnet man das Prinzip, mit der Zahlung von Geldern oder der Möglichkeit des Beitritts einer bestimmten Gruppe Auflagen zu verbinden, die der Geldempfänger bzw. Beitretende zu erfüllen hat. Im Rahmen des EU-Erweiterungsprozesses gilt die Konditionalität als wichtigstes Instrument der EU, die Politik und Wirtschaft der beitrittswilligen Staaten zu beeinflussen.

Das Konzept der „differenzierten Integration“ ermöglicht integrationswilligen Staaten, ihre Zusammenarbeit in bestimmten Sektoren zu vertiefen, wenn andere Mitglieder hierzu (noch) nicht bereit sind. So existieren innerhalb der EU rechtliche Ausnahmen oder Opt-Outs für einzelne Mitgliedstaaten, welche von allen Mitgliedern einstimmig beschlossen werden müssen. Das prominenteste Beispiel ist das Opt-Out Großbritanniens und Dänemarks bei der Einführung des Euros. Im Bereich der ENP ist die differenzierte Integration eine Möglichkeit, individuell auf die unterschiedliche Integrationsbereitschaft der jeweiligen Mitglieder einzugehen.

Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) ist ein außenpolitisches Instrument der EU, das den Rahmen für ihre Beziehungen zu 16 östlichen und südlichen Partnerländern bildet. Dazu gehören in der sogenannten „Östlichen Partnerschaft“ Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine sowie in der „Südlichen Partnerschaft“ Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Palästina, Syrien und Tunesien. Übergreifende Ziele der ENP sind die Stabilisierung sowie wirtschaftliche und demokratische Entwicklung der Partnerländer. Außerdem soll die regionale Zusammenarbeit zwischen den Partnerländern gestärkt werden.

Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) sind Verträge, die die EU mit jedem zukünftigen Beitrittskandidaten abschließt. Sie richten wirtschaftliche und rechtliche Forderungen an die Staaten, um deren Angleichung an EU-Standards zu gewährleisten. Die SAAs werden generell als Vorstufe zu eigentlichen Beitrittsgesprächen gesehen.

Die Idee des prinzipiengeleiteten Pragmatismus wurde von der EU 2016 in ihrem Strategiepapier „Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe“ eingeführt. Sie betont die gleichwertige Bedeutung von Interessen und Werten und bildet einen Grundpfeiler des außenpolitischen Handelns der EU.

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