Die Anziehungskraft der Demokratie hat nach ihrem scheinbaren Siegeszug nach der Auflösung der Sowjetunion in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Davon zeugt auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der – wie die EU und USA schockiert feststellen mussten – nicht von allen Ländern gleichermaßen verurteilt wird. Global betrachtet ist er ein Konflikt zwischen demokratischen Grundprinzipien, wie die EU sie bewirbt, und autokratischen Prinzipien, wie sie von Russland, aber auch China oder Saudi Arabien vertreten werden.
In einem einführenden Artikel zur Sonderausgabe der Zeitschrift Democratization über die Politik der EU und anderer großer Player in der europäischen Nachbarschaft geben Assem Dandashly und Gergana Noutcheva einen Einblick in die Verbreitung von Normen. In der Politikwissenschaft wird das Normdiffusion genannt.
Der Einfluss westlicher Staaten auf die politischen Transformationsprozesse in diesen Regionen wird von der Forschung bereits seit vielen Jahren untersucht.
Entscheidend für den Transfer von Normen sei die kulturelle Vereinbarkeit zwischen den internen Werten einer Gesellschaft und den externen Werten anderer Akteur:innen. Hinzu komme der Einfluss regierender Eliten als „Wächter“ des Wertekanons eines Landes. Auch das Erbe (sog. legacies) vergangener Regime, wie etwa der Sowjetunion in den östlichen Partnerländern, habe nach wie vor einen großen Einfluss auf die Einstellungen, Institutionen und das Verhalten dieser Gesellschaften. Wie externe Normen in einem Land diskutiert werden, hänge auch stark von dessen politischem System ab: Sind nur Eliten in der Lage, öffentlich Kritik zu äußern, oder die ganze Gesellschaft? Dies beeinflusse wiederum die Akzeptanz, Anpassung oder Ablehnung einer externen Einwirkung und damit die Normverbreitung insgesamt.
Ein Hauptproblem der EU ist Dandashly und Noutcheva zufolge ein Grundwiderspruch der liberalen Demokratie als Fundament der europäischen Werteordnung: Während Demokratie die Delegation von Macht seitens der Bevölkerung an gewählte Entscheidungsträger:innen beinhalte, habe der Liberalismus das Ziel, individuelle Freiheit vor staatlicher Macht zu schützen und letztere daher einzuschränken. Die Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU bestätigt Dandashly und Noutcheva: Das Spannungsverhältnis aus Fremd- und Selbstbestimmung spielt bei der Verbreitung sog. „illiberaler Demokratien“ (Viktor Orbán) in der EU durchaus eine Rolle: Ungarn etwa bedient sich des Arguments, individuelle Rechte vor den illegitimen Einflüssen der EU schützen zu müssen, um seinerseits staatliche Macht zu zentrieren. Die Unfähigkeit der EU, der Erosion demokratischer Normen etwas entgegenzusetzen, könnte man mit Dandashly und Noutcheva argumentieren, unterminiert auch ihre normativen Einflussmöglichkeiten in anderen Ländern.
Wie die Beiträge der Sonderausgabe verdeutlichen, werden die dadurch entstehenden Lücken zunehmend von autoritären Regimen gefüllt. Deren Ziel sei nicht zwangsläufig die Verbreitung eines bestimmten politischen Systems, sondern die Übertragung eigener, „traditioneller“ Werte. In den östlichen Nachbarländern verbreite beispielsweise Russland politische Ideen, die sich um Personenkulte und „konservative Werte“ drehen. Letztere beinhalten immer auch religiöse Elemente, die, so das russische Narrativ, Grundlage für Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Patriotismus seien. Dandashly und Noutcheva lassen hier das Ziel der Destabilisierung bestimmter Staaten unerwähnt: Denn Russlands „Wertepolitik“ hatte auch das Ziel, eine weitere EU-Annäherung seiner westlichen Nachbarn zu verhindern und deren Abhängigkeit von Russland zu erhöhen.
Die Rolle von Religion im Konflikt um dominierende Normen zeige sich noch stärker in der südlichen Nachbarschaft der EU, wo die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie Hauptgegenstand der Debatte ist.
Interessanterweise ist den Autor:innen zufolge ein Gros der demokratischen Prinzipien der EU wie Rechtsstaatlichkeit, freie und gerechte Wahlen oder individuelle Freiheiten in den östlichen Partnerschaftsländern weitestgehend akzeptiert. Umstritten sei lediglich der Schutz von LGBTQIA+-Gruppen aufgrund des Einflusses konservativ-religiöser Eliten. Gerade mit Blick auf die Mitglieder der
Überraschend ist die Schlussfolgerung von Dandashly und Noutcheva: Sowohl in der östlichen als auch südlichen Nachbarschaft existiere „keine ernstzunehmende Alternative zur Demokratie als Governance-System“, da die großen regionalen Player kein anderes attraktives politisches System anbieten würden. Einerseits lässt dies die opportunistische Einstellung einiger Regierungen außer Acht, deren Reformwilligkeit gegenüber der EU oftmals nur ein Lippenbekenntnis bleibt. So zeigen beispielsweise Abbott und Teti in ihrer Analyse der Südlichen Nachbarschaftspolitik der EU, dass die Regierungen Nordafrikas in der Vergangenheit oft nur scheinbar Bedingungen der EU erfüllten, um im Gegenzug finanzielle Mittel abzugreifen.
Andererseits ist fraglich, wie wichtig die normative Attraktivität eines externen Akteurs ist, wenn dessen Einflussnahme auch durch ökonomische Anreize erreicht werden kann. Das verdeutlicht Chinas Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent: Die chinesische Regierung bindet ihre Investitionen und Wirtschaftshilfen nicht an demokratische Reformforderungen an afrikanische Staaten. Die erhöhte Abhängigkeit von China scheinen letztere billigend in Kauf zu nehmen. Ein Weg für die EU könnte daher sein, ihre Reformbedingungen – vor allem die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards – im Rahmen eines „prinzipiengeleiteten Pragmatismus“, wie es der Politikwissenschaftler Spyros Economides formuliert, neu und glaubhaft mit wirtschaftlichen Interessen der Partnerländer zu verbinden.