Exportschlager liberale Demokratie?

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Geschrieben von Laura Worsch

Bei te.ma veröffentlicht 16.08.2023

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/rt01-xw42

Geschrieben von Laura Worsch
Bei te.ma veröffentlicht 16.08.2023
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/rt01-xw42

Die Demokratieförderung des Westens habe Konkurrenz erhalten, sie sei nicht mehr „the only game in town“, argumentieren die Politikwissenschaftler:innen Assem Dandashly und Gergana Noutcheva. Damit würden auch die normativen Grundlagen infrage gestellt, auf denen die EU-Politik in der östlichen Nachbarschaft, den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens basiere. Nicht-westliche Akteure wie Russland, die Türkei oder die Golfstaaten wüssten dies für sich zu nutzen. 

Die Anziehungskraft der Demokratie hat nach ihrem scheinbaren Siegeszug nach der Auflösung der Sowjetunion in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Davon zeugt auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der – wie die EU und USA schockiert feststellen mussten – nicht von allen Ländern gleichermaßen verurteilt wird. Global betrachtet ist er ein Konflikt zwischen demokratischen Grundprinzipien, wie die EU sie bewirbt, und autokratischen Prinzipien, wie sie von Russland, aber auch China oder Saudi Arabien vertreten werden.

In einem einführenden Artikel zur Sonderausgabe der Zeitschrift Democratization über die Politik der EU und anderer großer Player in der europäischen Nachbarschaft geben Assem Dandashly und Gergana Noutcheva einen Einblick in die Verbreitung von Normen. In der Politikwissenschaft wird das Normdiffusion genannt.1 Sie bilanzieren, dass der Einfluss der jeweiligen regionalen Akteure auf Länder in Osteuropa oder Nordafrika maßgeblich von den Gesellschaftsstrukturen im Zielland abhängt.

Der Einfluss westlicher Staaten auf die politischen Transformationsprozesse in diesen Regionen wird von der Forschung bereits seit vielen Jahren untersucht.2 Die Rolle von illiberalen Mächten wurde bislang allerdings wenig thematisiert. Die Sonderausgabe konzentriert sich dabei auf die Konkurrenz zwischen der EU auf der einen und Russland und der Türkei (in der östlichen Nachbarschaft) sowie den Golfstaaten (in der südlichen Nachbarschaft) auf der anderen Seite.

Entscheidend für den Transfer von Normen sei die kulturelle Vereinbarkeit zwischen den internen Werten einer Gesellschaft und den externen Werten anderer Akteur:innen. Hinzu komme der Einfluss regierender Eliten als „Wächter“ des Wertekanons eines Landes. Auch das Erbe (sog. legacies) vergangener Regime, wie etwa der Sowjetunion in den östlichen Partnerländern, habe nach wie vor einen großen Einfluss auf die Einstellungen, Institutionen und das Verhalten dieser Gesellschaften. Wie externe Normen in einem Land diskutiert werden, hänge auch stark von dessen politischem System ab: Sind nur Eliten in der Lage, öffentlich Kritik zu äußern, oder die ganze Gesellschaft? Dies beeinflusse wiederum die Akzeptanz, Anpassung oder Ablehnung einer externen Einwirkung und damit die Normverbreitung insgesamt.

Ein Hauptproblem der EU ist Dandashly und Noutcheva zufolge ein Grundwiderspruch der liberalen Demokratie als Fundament der europäischen Werteordnung: Während Demokratie die Delegation von Macht seitens der Bevölkerung an gewählte Entscheidungsträger:innen beinhalte, habe der Liberalismus das Ziel, individuelle Freiheit vor staatlicher Macht zu schützen und letztere daher einzuschränken. Die Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU bestätigt Dandashly und Noutcheva: Das Spannungsverhältnis aus Fremd- und Selbstbestimmung spielt bei der Verbreitung sog. „illiberaler Demokratien“ (Viktor Orbán) in der EU durchaus eine Rolle: Ungarn etwa bedient sich des Arguments, individuelle Rechte vor den illegitimen Einflüssen der EU schützen zu müssen, um seinerseits staatliche Macht zu zentrieren. Die Unfähigkeit der EU, der Erosion demokratischer Normen etwas entgegenzusetzen, könnte man mit Dandashly und Noutcheva argumentieren, unterminiert auch ihre normativen Einflussmöglichkeiten in anderen Ländern.

Wie die Beiträge der Sonderausgabe verdeutlichen, werden die dadurch entstehenden Lücken zunehmend von autoritären Regimen gefüllt. Deren Ziel sei nicht zwangsläufig die Verbreitung eines bestimmten politischen Systems, sondern die Übertragung eigener, „traditioneller“ Werte. In den östlichen Nachbarländern verbreite beispielsweise Russland politische Ideen, die sich um Personenkulte und „konservative Werte“ drehen. Letztere beinhalten immer auch religiöse Elemente, die, so das russische Narrativ, Grundlage für Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Patriotismus seien. Dandashly und Noutcheva lassen hier das Ziel der Destabilisierung bestimmter Staaten unerwähnt: Denn Russlands „Wertepolitik“ hatte auch das Ziel, eine weitere EU-Annäherung seiner westlichen Nachbarn zu verhindern und deren Abhängigkeit von Russland zu erhöhen.3

Die Rolle von Religion im Konflikt um dominierende Normen zeige sich noch stärker in der südlichen Nachbarschaft der EU, wo die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie Hauptgegenstand der Debatte ist.4 Wie auch andere Autor:innen argumentieren Dandashly und Noutcheva, dass Religion und demokratische Entwicklungen prinzipiell miteinander vereinbar sind. Während aber etwa die Politikwissenschafter:innen Pamela Abbott und Andrea Teti vor allem den neoliberalen und institutionellen Ansatz der EU-Demokratieförderung kritisieren, sehen Dandashly und Noutcheva die Ablehnung liberal-demokratischer Normen (wie zum Beispiel den Schutz sexueller Minderheiten) als Hauptgrund für die erfolglose Einflussnahme der EU in ihrer Nachbarschaft. Hier zeige sich, wie entscheidend interne Gesellschaftsstrukturen sind. Beispielsweise habe das (laut Verfassung) laizistische türkische System zunächst als Vorbild für die ägyptische Gesellschaft gedient, bevor verschiedene Gruppen das Modell ablehnten: Die einen fanden es zu säkular, die anderen zu islamisch.

Interessanterweise ist den Autor:innen zufolge ein Gros der demokratischen Prinzipien der EU wie Rechtsstaatlichkeit, freie und gerechte Wahlen oder individuelle Freiheiten in den östlichen Partnerschaftsländern weitestgehend akzeptiert. Umstritten sei lediglich der Schutz von LGBTQIA+-Gruppen aufgrund des Einflusses konservativ-religiöser Eliten. Gerade mit Blick auf die Mitglieder der Östlichen Partnerschaft (ÖP) muss man allerdings festhalten, dass insbesondere Korruption und die Macht von Oligarchen weitere Problembereiche sind, die den demokratischen Werten der EU entgegenlaufen.

Überraschend ist die Schlussfolgerung von Dandashly und Noutcheva: Sowohl in der östlichen als auch südlichen Nachbarschaft existiere „keine ernstzunehmende Alternative zur Demokratie als Governance-System“, da die großen regionalen Player kein anderes attraktives politisches System anbieten würden. Einerseits lässt dies die opportunistische Einstellung einiger Regierungen außer Acht, deren Reformwilligkeit gegenüber der EU oftmals nur ein Lippenbekenntnis bleibt. So zeigen beispielsweise Abbott und Teti in ihrer Analyse der Südlichen Nachbarschaftspolitik der EU, dass die Regierungen Nordafrikas in der Vergangenheit oft nur scheinbar Bedingungen der EU erfüllten, um im Gegenzug finanzielle Mittel abzugreifen.

Andererseits ist fraglich, wie wichtig die normative Attraktivität eines externen Akteurs ist, wenn dessen Einflussnahme auch durch ökonomische Anreize erreicht werden kann. Das verdeutlicht Chinas Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent: Die chinesische Regierung bindet ihre Investitionen und Wirtschaftshilfen nicht an demokratische Reformforderungen an afrikanische Staaten. Die erhöhte Abhängigkeit von China scheinen letztere billigend in Kauf zu nehmen. Ein Weg für die EU könnte daher sein, ihre Reformbedingungen – vor allem die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards – im Rahmen eines „prinzipiengeleiteten Pragmatismus“, wie es der Politikwissenschaftler Spyros Economides formuliert, neu und glaubhaft mit wirtschaftlichen Interessen der Partnerländer zu verbinden.

Fußnoten
4

Carla Winston: Norm structure, diffusion, and evolution. A conceptual approach. In: European Journal of International Relations. Band 24, Nr. 3, 2018, S. 638–661. https://doi.org/10.1177/1354066117720794 

Tina Freyburg et al.: EU Promotion of Democratic Governance in the Neighbourhood. In: Tina Freyburg et al. (Hrsg.). Democracy Promotion by Functional Cooperation. The European Union and its Neighbourhood. Palgrave Macmillan UK, London 2015, ISBN9781137489340, S. 63–83; Gwendolyn Sasse: The European Neighbourhood Policy. Conditionality Revisited for the EU's Eastern Neighbours. In: Europe-Asia Studies. Band 60, Nr. 2, 2008, S. 295–316. https://doi.org/10.1080/09668130701820150; Frank Schimmelfennig und Hanno Scholtz: EU Democracy Promotion in the European Neighbourhood. Political Conditionality, Economic Development and Transnational Exchange. In: European Union Politics. Band 9, Nr. 2, 2008, S. 187–215. https://doi.org/10.1177/1465116508089085; Katja Weber, Michael E. Smith und Michael Baun (Hrsg.): Governing Europe's Neighbourhood. Partners or Periphery?. Manchester University Press, Manchester 2015, ISBN 9780719096778; Richard G. Whitman und Stefan Wolff (Hrsg.): The European Neighbourhood Policy in Perspective. Context, Implementation and Impact. Palgrave Macmillan, Basingstoke, Hampshire, New York, NY 2012, ISBN 9780230203853.

Beispiele für diese Praxis sind der Krieg zwischen Russland und Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 sowie die anhaltenden Cyberangriffe und Desinformationskampagnen Russlands gegen die Republik Moldau. 

 Khalil Al-Anani: Islamist Parties Post-Arab Spring. In: Mediterranean Politics. Band 17, Nr. 3, 2012, S. 466–472. https://doi.org/10.1080/13629395.2012.725309; Timo Behr: EU Foreign Policy and Political Islam. Towards a New Entente in the Post-Arab Spring Era? In: Erik Jones und Saskia van Genugten (Hrsg.). Europe and Islam. Routledge, London, New York, New York 2016, ISBN1-315-61720-X, S. 30–43; Tarek Chamkhi: Neo-Islamism in the post-Arab Spring. In: Contemporary Politics. Band 20, Nr. 4, 2014, S. 453–468. https://doi.org/10.1080/13569775.2014.970741; Beverley. Milton-Edwards: The Muslim Brotherhood. The Arab Spring and its Future Face. Routledge, New York 2016, ISBN 1-317-33365-9.

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Die „Östliche Partnerschaft“ (ÖP) der EU gehört zur Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Sie ist insbesondere darauf gerichtet,  die Länder des östlichen Europas auf ein zukünftiges Assoziierungsabkommen mit der EU vorzubereiten. Seit 2009 haben sich im Rahmen mehrerer Abkommen Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und die Ukraine zur ÖP bekannt.

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