Der Blick hinter die Geopolitik in Osteuropa

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Gerard Toal2017

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022

te.ma DOI 10.57964/z67k-3j44

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022
te.ma DOI 10.57964/z67k-3j44

Warum überfällt Russland seine Nachbarländer? Und was sind die Ursachen der geopolitischen Rivalität zwischen Russland und dem Westen in Georgien und der Ukraine? Das Buch von Gerard Toal aus dem Jahr 2017, das diesen Fragen nachgeht, ist angesichts der heutigen Realität des Krieges gegen die Ukraine wieder äußerst aktuell.

Die Gründe für den Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 werden außerordentlich kontrovers diskutiert. Während Analysten der liberalen Richtung, wie der Politikwissenschaftler und Diplomat Michael McFaul, Russlands aggressives Verhalten als den Versuch interpretieren, die ukrainische Demokratie zu zerstören und das Land zu unterwerfen, sehen Stimmen aus dem Neorealismus, etwa der Politikwissenschaftler John Mearsheimer, in Russlands Verhalten eine Reaktion auf die westliche Politik, insbesondere die NATO-Osterweiterung. 

Gerard Toal äußert in seiner nach dem Georgienkrieg und der Krim-Annexion entstandenen Monographie „tiefe Unzufriedenheit“ sowohl mit dem liberalen als auch mit dem neorealistischen Ansatz. Beide basieren seiner Meinung nach auf einem oberflächlichen Verständnis von Geopolitik („thin geopolitics“) und vernachlässigen komplexe räumliche Zusammenhänge. 

Aus der Perspektive der kritischen Geopolitik, zu deren bekanntesten Vertretern Toal zählt, kann die geografische Lage eines politischen Akteurs allein keine Erklärung für dessen außenpolitischen Interessen und Strategien liefern. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen Ideen, Wahrnehmungen und Emotionen, die in den politischen Diskursen der jeweiligen Akteure hervorgebracht und verarbeitet werden. Geopolitik ist damit „a discursive practice, by which intellectuals of statecraft ‚spatialize‘ international politics (…).“1 Toal definiert Staaten als territoriale Machtstrukturen, die mit unterschiedlichen räumlichen Identitäten und Vorstellungen von ihrer Position und Aufgabe in der Welt entstehen.

Entsprechend stehen bei Toal auch nicht geopolitische Interessen, sondern geopolitische Kulturen im Mittelpunkt. Die geopolitische Kultur der USA ist für ihn durch einen moralischen Ansatz gegenüber der Außenwelt gekennzeichnet: Der Westen sieht sich als Befreier der unterdrückten Nationen. Die russische geopolitische Kultur hingegen sei an geschichtsträchtige geografische Orte, wie den Kaukasus und die Krim, gebunden. 

Zentraler affektiver Referenzpunkt der aktuellen geopolitischen Kultur in Russland ist laut Toal der Zusammenbruch der Sowjetunion. Diesen hätten manche Menschen als Befreiung erlebt, andere jedoch als Tragödie, gekennzeichnet durch Vertreibung und wirtschaftlichen Ruin. Der postsowjetische Raum bildet eine komplexe post-imperiale Entität, in der konkurrierende Machtzonen auf unterschiedliche Weise auf das imperiale Erbe und aufeinander reagieren. Auch die Annexion der Krim ist laut Toal mehr von affektiven Motiven als von geostrategischen Interessen getrieben worden. 

Als ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch das Buch, dass Russland wie der Westen ihre je eigenen Versionen post-sowjetischer Geschichte konstruieren. Dabei greifen sie auf ähnliche emotionale Erzählungen zurück, produzieren aber gegenseitig unverständliche Interpretationen derselben Ereignisse. 

Toals Ansatz teilt mit dem Konstruktivismus die sozialtheoretische Grundlegung, integriert aber mit seinem weiten Kulturbegriff ein noch größeres Spektrum sozialer Faktoren. Kritisch wird seinem Ansatz  gegenüber geäußert, dass er die Grenzen zwischen tatsächlicher perspektivischer Wahrnehmung und deren strategischem Vortäuschen, also bewusster Propaganda, nur schwer ziehen kann.2 Der Rezensent Jörg Baberowski hingegen verteidigt Toals Ansatz und merkt an: „Das Buch belehrt darüber, dass, wer es in der Außenpolitik zu etwas bringen möchte, verstehen muss, worauf der andere hinaus will und warum er das will.“

Ob man Toals Analyse zustimmt oder nicht – sein „Near Abroad“ ist ein detailreiches und originelles Plädoyer für ein breiteres Verständnis der räumlich-politischen Beziehungen und eine gründliche Analyse der Geschichte von Orten und Menschen, ihren Identitäten und Emotionen in der Außenpolitik.

Fußnoten
2

Geopolitik sei damit „eine diskursive Praxis, mit der Intellektuelle der Staatskunst die internationale Politik ‚verräumlichen‘ (...).“ Zitiert aus: Gearóid Ó Tuathail und John Agnew: Geopolitics and Discourse: Practical Geopolitical Reasoning in American Foreign Policy. In: Political Geography Quarterly. Band 11, Nr. 2, 1992, S. 190-204.

Alexander B. Murphy et al.: Near Abroad: Putin, the West and the Contest Over Ukraine and the Caucasus. In: The AAG Review of Books, Band 6, 2018, S. 293-305.

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Ein intellektuell sehr anspruchsvoller Kommentar, der sich beim ersten Lesen nicht sofort erschließt. Als zielführend für das Verständnis des komplexen Themas ist für mich die Gegenüberstellung von geopolitischen Interessen und geopolitischen Kulturen. Insofern ist der Kommentar hilfreich für den inhaltlichen Zugang zum Buch.

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