Wie die ukrainische Diaspora den Wiederaufbau ihres Landes vorbereitet

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Joop Adema, Yvonne Giesing, Tetyana Panchenko, et al.2023
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Wie die ukrainische Diaspora den Wiederaufbau ihres Landes vorbereitet

»The Role of the Diaspora for the Recovery of Ukraine«

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Geschrieben von Julia Glathe

Bei te.ma veröffentlicht 17.10.2023

te.ma DOI 10.57964/m99p-p783

Geschrieben von Julia Glathe
Bei te.ma veröffentlicht 17.10.2023
te.ma DOI 10.57964/m99p-p783

Der Wiederaufbau nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird große finanzielle und materielle Anstrengungen erfordern. Ein Team des ifo-Instituts in München beleuchtet, welchen Beitrag die ukrainische Diaspora leisten kann. Die Integration der Geflüchteten in den europäischen Arbeitsmarkt sei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass finanzielle Ressourcen und Humankapital in die Ukraine transferiert werden können.

Am 20. Juni 2023 hat die Europäische Kommission ein eigenes Finanzierungsinstrument vorgeschlagen, um den Wiederaufbau und die Modernisierung der kriegszerstörten Ukraine mit rund 50 Milliarden Euro für die Jahre 2024-2027 zu unterstützen. Auch andere Staaten, allen voran die USA, haben einen Tag später auf der Geberkonferenz für die Ukraine in London mehrere Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Laut den Ökonom:innen Joop Adema, Yvonne Giesing, Tetyana Panchenko und Panu Poutvaara vom ifo-Institut für Wirtschaftsforschung habe neben der staatlichen Auslandshilfe auch die global vernetzte ukrainische Diaspora das Potenzial, einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. 

Diese Hoffnung stützt sich auf die internationale Forschung zu sogenannten Rücküberweisungen (eng. remittances), die in verschiedenen Regionen der Welt positive Effekte in finanzieller, sozialer und sogar politischer Hinsicht nachgewiesen hat.1 

Folgt man der Annahme, dass Diasporagemeinschaften eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und dem Wiederaufbau von Kriegsregionen spielen, so sind die Voraussetzungen in der Ukraine äußerst günstig: Aufgrund ihrer langen Emigrationsgeschichte zählte die ukrainische Diaspora bereits vor der russischen Invasion im Jahr 2021 über 20 Millionen Menschen in mehr als 60 Ländern weltweit. Neben Russland gehören vor allem Nordamerika, Südamerika und Moldawien zu den wichtigsten Zielländern.

Seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine ist die ukrainische Zuwanderung auch nach Europa rasant angestiegen. Statistiken der Europäischen Kommission zufolge hätten sich bereits im Jahr 2020 mehr als 1,3 Millionen Ukrainer*innen in der Europäischen Union befunden, vor allem in Polen, Italien, Deutschland, Spanien und Tschechien. Infolge der russischen Invasion sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks inzwischen mehr als acht Millionen Menschen in europäischen Staaten als Flüchtlinge registriert. 

Und auch wenn die zahlenmäßige Bestimmung der ukrainischen Diaspora aufgrund der Definition dieser Gruppe problematisch ist, zeigt allein die Höhe der offiziell registrierten Rücküberweisungen in die Ukraine von mehr als 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021, wie bedeutend die Gruppe der im Ausland lebenden Ukrainer:innen ist. Mit diesem Wert ist die Ukraine laut den ifo-Forscher:innen Spitzenreiter in Europa und Zentralasien, was finanzielle Rücküberweisungen angeht.

In diesem Kontext muss auch die optimistische These der Autor:innen gelesen werden, dass die Massenauswanderung aus der Ukraine langfristig nicht etwa zu einem massiven Brain und Care Drain führt, sondern einen nachhaltigen Beitrag zum Wiederaufbau leisten kann. Dabei sei sowohl der Transfer von Geld als auch von Wissen relevant. Vor dem Hintergrund von Umfrageergebnissen, die auf eine hohe Rückkehrbereitschaft ukrainischer Flüchtlinge nach Kriegsende hindeuten, stelle die Diaspora auch ein Reservoir an Humankapital dar, das für den Wiederaufbau des Landes dringend benötigt werde. Darüber hinaus spiele die Diaspora eine wichtige Rolle an der „Informationsfront“, um der russischen Desinformation entgegenzuwirken. Schließlich könnten die diplomatischen Aktivitäten der ukrainischen Diaspora ein Baustein für eine erfolgreiche Integration der Ukraine in die EU sein.

Um den Beitrag der ukrainischen Diaspora zum Wiederaufbau optimal nutzen zu können, so die ifo-Forscher:innen, müsse auch die Politik der Aufnahmeländer in die Pflicht genommen werden. Um finanzielle Rückflüsse und Investitionen in die Ukraine zu steigern, sollten die Aufnahmeländer eine qualifikationsadäquate Arbeitsmarktintegration der Ukrainer:innen vorantreiben, anstatt sie einfach als gering qualifizierte Arbeitskräfte einzusetzen. Dazu seien vor allem Sprachförderung, Ausbildungs- und Praktikumsangebote sowie Unterstützung bei der Arbeitssuche notwendig. Außerdem sei die schnelle Anerkennung von Qualifikationen wichtig, um das Humankapital der ukrainischen Arbeitskräfte auszuschöpfen. Nach dem Krieg müsse dann die Rückkehr der Ukrainer:innen ermöglicht werden, damit diese mit ihrem neu erworbenen Wissen die Entwicklung im Land vorantreiben, zum Beispiel durch die Gründung von Start-Ups. Inwieweit dieser optimistische Plan angesichts der ungewissen Kriegsdynamik, den traumatischen Kriegserfahrungen vieler Ukrainer:innen und der bislang fehlenden politischen Vision zur Wahrung der ukrainischen Sicherheitsinteressen gegenüber Russland aufgeht, bleibt abzuwarten.

Fußnoten
1

Toman Barsbai et al.: The Effect of Labor Migration on the Diffusion of Democracy. Evidence from a Former Soviet Republic. In: American Economic Journal: Applied Economics. Band 9, Nr. 3, 2017, S. 36–69. https://doi.org/10.1257/app.20150517; Thomas A. Fackler, Yvonne Giesing und Nadzeya Laurentsyeva: Knowledge remittances. Does emigration foster innovation? In: Research Policy. Band 49, Nr. 9, 2020. https://doi.org/10.1016/j.respol.2019.103863; Nava Ashraf et al.: Savings in Transnational Households. A Field Experiment among Migrants from El Salvador. In: Review of Economics and Statistics. Band 97, Nr. 2, 2015, S. 332–351. https://doi.org/10.1162/REST_a_00462; Jeffrey Frankel: Are Bilateral Remittances Countercyclical? In: Open Economies Review. Band 22, Nr. 1, 2011, S. 1–16. https://doi.org/10.1007/s11079-010-9184-y; Dean Yang und HwaJung Choi: Are Remittances Insurance? Evidence from Rainfall Shocks in the Philippines. In: The World Bank Economic Review. Band 21, Nr. 2, 2007, S. 219–248. https://doi.org/10.1093/wber/lhm003; Yossi Shain und Martin Sherman: Diasporic transnational financial flows and their impact on national identity. In: Nationalism and Ethnic Politics. Band 7, Nr. 4, 2001, S. 1–36. https://doi.org/10.1080/13537110108428643.

Innerhalb der Forschung zu Remittances wurde gleichzeitig auf mögliche negative Folgen einer starken wirtschaftlichen Abhängigkeit von monetären Rücküberweisungen hingewiesen, die sich langfristig auch in der Ukraine bemerkbar machen könnte. Hein De Haas: Remittances and social development. In: Katja Hujo und Shea McClanahan (Hrsg.): Financing social policy: Mobilizing resources for social development. Palgrave Macmillan, London 2009, S. 293-318. ISBN 978-0-230-57664-3; Amela Trokić: The negative long term effects of remittance inflow in Bosnia and Herzegovina. In: Analytical 09, 2012: S. 58-73. Ismail I. Ahmed: Remittances and their economic impact in post‐war Somaliland. In: Disasters, Band 24, Nr. 4, 2000, S. 380-389. https://doi.org/10.1111/1467-7717.00154

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