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Martin Krohs stellt vor:

Luca und Noah – Das phonologische Degendering von Jungennamen seit der Jahrtausendwende

Re-Paper

Luca und Noah – Das phonologische Degendering von Jungennamen seit der Jahrtausendwende

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Geschrieben von Martin Krohs

Bei te.ma veröffentlicht 21.11.2022

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/k5m4-mz93

Geschrieben von Martin Krohs
Bei te.ma veröffentlicht 21.11.2022
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/k5m4-mz93

Nikita, I love you so … – Elton Johns Lied konnte bei seinem Erscheinen 1985 geschlechtlich ziemlich verwirren: Der im Russischen männliche Name Nikita mutet im Deutschen eher weiblich an. Und wie ist das mit dem derzeit modischen Luca? Damaris Nübling untersucht den Wandel der Geschlechterzuweisung bei Rufnamen – und damit ein wichtiges Element unserer Geschlechterordnung.

„Jedes Kind kann jedem Rufnamen sofort ein Geschlecht zuweisen, sogar dann, wenn es den Namen gar nicht kennt“, schreibt Nübling. Die Geschlechtlichkeit ist so tief im Namenswort verankert, dass Standesämter in Deutschland eine gegengeschlechtliche Namensgebung als dem Kindeswohl abträglich ansehen und nicht zulassen. Niemand kann also hingehen und seinen Sohn Adelheide nennen.

Aber was macht Adelheide (oder Maria oder Helene) so „typisch weiblich“? Nübling identifiziert vier Faktoren: Frauennamen sind länger als Männernamen, meist nicht auf der ersten Silbe betont, sie enthalten mehr Vokale1 und enden auch sehr häufig auf einem Vokal (meist -a oder -e), nur selten auf einem Konsonanten.

Und in der Tat – würden wir hinter einem einsilbig-konsonantenlastigen Namen wie Kurt eine Frau vermuten? – Andererseits ist Ruth weiblich. Und Boris und Doris oder Almut und Helmut trennt jeweils nur eine minimale phonetische Distanz. In solchen Fällen lässt die Wortgestalt keine Schlüsse auf das Geschlecht zu, die Geschlechterzuweisung ist hier also etwas Angelerntes, eine Konvention.

Und diese Konvention, so Damaris Nübling, verändert sich gerade. Während auf -a auslautende Namen noch bis vor einigen Jahren eigentlich nur weiblich sein konnten (siehe Nikita), ist heute Luka (oder Luca) als Jungenname gleichauf mit dem zuvor gebräuchlichen Lukas, bei dem das Endungs-S die Männlichkeit anzeigte. Auch Jona, Mika, Elia sind inzwischen als Jungennamen Gang und Gäbe. Nübling schreibt dazu: „Der prominenteste Weiblichkeitsmarker [nämlich der Auslaut auf -a] verliert sein Geschlecht“ – er wird nun auch für Männernamen tauglich.

Song und Video von Elton Johns „Nikita“ spielen mit der (scheinbaren) Androgynität des Namens.

Generell sieht Nübling in den Namensstatistiken über die letzten Jahrzehnte ein zunehmendes undoing gender, also ein Abrücken von Namen mit einer starken, eindeutigen Geschlechtsaussage. Kürzere Mädchennamen, längere Jungennamen und der Aufschwung von Unisex-Namen wie eben Luca, Kim, Kai oder Sandy2 verwischen die vertrauten sozio-onomastischen Geschlechterunterschiede.3 

Allerdings zeigt sich gerade bei den Unisex-Namen ein interessantes Phänomen: Sie haben die Tendenz, nach kurzzeitiger androgyner Doppelverwendung in eine der beiden (grammatisch) möglichen Geschlechteroptionen hinüberzukippen, meist in die weibliche. Diese Instabilität der androgynen Namen könnte auf fortbestehende Statusunterschiede zwischen den Geschlechtern zurückgehen: „Eltern scheinen für ihre Töchter Jungennamen zu schätzen, während sie für ihre Söhne Mädchennamen meiden.“

Noch vor wenigen Jahrzehnten stellte man sich die Kategorie Geschlecht als ein simples Entweder-Oder vor. Heute entpuppt sie sich zusehends als eine dynamische Verschränkung von nicht ganz eindeutiger Biologie mit verschiedensten, unserer eigenen Gestaltung anheimgestellten sozialen Faktoren, als ein kompliziert kombiniertes Sex-Gender oder Gender-Sex. Dass auch die Personennamen auf diese Entwicklung reagieren, erscheint nur plausibel. 

Allerdings bleiben in Nüblings Schnappschuss einer kurzen Epoche der Namensgebungen auch viele Fragen unbeantwortet. Wie ist die Situation in anderen Sprachen als dem Deutschen? Lassen sich – wie manche Forscher annehmen4 – übergreifende Gesetzlichkeiten finden, die Wort- und Klanggestalt fest an bestehende Geschlechtsstereotypen binden? 

Eine 2021 veröffentlichte Untersuchung von Tanja Ackermann und Christian Zimmer5 kommt hier zu einem differenzierten Ergebnis: Die von Nübling für das aktuelle Deutsch identifizierten Faktoren (Namenslänge, Stellung der betonten Silbe, Vokalanzahl und vokalische / konsonantische Endung) ließen keine sprachübergreifende geschlechtsspezifische Systematik erkennen. Das unterstützt die These, dass es sich um willkürliche und damit auch beliebig modifizierbare Konventionen handelt. Allerdings fanden die Autoren auch einen Faktor, der tatsächlich über alle Sprachen stabil zu sein scheint, nämlich die Anzahl der vorderen (i, e) respektive hinteren (a, o, u) Vokale im Namenswort: Die ersteren sind klangsymbolisch mit der Eigenschaft klein verbunden, die zweiten mit groß, und klein wiederum mit einem weiblichen Geschlechter-Stereotyp, groß mit einem männlichen. Namen wie Emilie würden dann also auch international eher als weiblich, solche wie Laszlo eher als männlich wahrgenommen. Die von Nübling angenommene Willkürlichkeit der Namensgeschlechtlichkeit wird dadurch zwar teils relativiert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. 

Ist es also bald vorbei mit der uns so vertrauten Hörbarkeit des Namengeschlechts? Das hängt sicher auch davon ab, ob außersprachliches, biologisch-soziales Geschlecht (Sex-Gender) tatsächlich auf eine androgyne Homogenisierung hinstrebt, oder ob sich im Gegenteil neue opponierende Konstellationen einstellen werden, die dann nicht unbedingt mit dem traditionellen weiblich-männlich-Schema zusammenfallen müssen. Beides würde sich vermutlich – auf je sehr unterschiedliche Art und Weise – auch in den geschlechtsspezifischen Konnotationen der Rufnamen niederschlagen.


Fußnoten
5

Frühere Untersuchungen wie die von Oelkers (2003) stellen fest, dass Frauennamen durchschnittlich mehr helle Kernvokale (a, e, i) als dunkle (o, u) enthalten. Nüblings Untersuchung kann das nicht bestätigen, sie findet stattdessen Unterschiede bei den un- und nebenbetonten Vokalen, wie den Schwa-Vokalen [ə] und [ɐ]. Diese waren bei Mädchennamen schon immer schwach vertreten, fanden sich jedoch bis in die 1960er Jahre in vielen Jungennamen (Peter, Jürgen, Dieter, Rainer), sind seitdem aber auch dort zugunsten von Vollvokalen auf dem Rückzug. Nübling schlussfolgert, dass auch mit diesem geschlechtsübergreifenden Trend zu Vollvokalen ein Degendering stattfindet.

Zum Vergleich siehe: Susanne Oelkers: Naming Gender. Empirische Untersuchungen zur phonologischen Struktur von Vornamen im Deutschen. Frankfurt 2003. 

 Ausser Diminutiv-Namen wie Sandy, Uli oder Toni hält das Deutsche auch noch einen Vorrat an friesischen und germanischen Unisex-Namen bereit, z.B. Eike, Heike, Tomke oder Gerrit, Kersten, Helge.

 „My name is Luka, I live on the second floor“, sang Suzanne Vega, und ohne das dazugehörige Video hätte man vermutlich eher ein Mädchen als Opfer der beschriebenen häuslichen Gewalt vermutet als einen Jungen. 

Außer der oben erwähnten Arbeit von Oelkers (2003) z.B. auch Anne Cutler et al.: Elizabeth and John: Sound patterns of men’s and women’s names. In: Journal of Linguistics. Nr. 26, 1990, S. 471-482 oder Benjamin Pitcher et al.: Sex-biased sound symbolism in English-language first names. In: PLoS ONE. Nr. 6, 2013, S. 1-6.

Tanja Ackermann, Christian Zimmer: The sound of gender – correlations of name phonology and gender across languages. In: Linguistics. Band 59, Nr. 4, 2021, S. 1143-1177 (#openaccess). 

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