Trauma und Sprachgebrauch gehen Hand in Hand, so der aserbaidschanisch-russische Historiker und Altphilologe Gasan Gusejnov in seinem erstmals 2008 erschienenen Text. Er bringt das Problem des postsowjetischen Russland auf eine Formel: Die Menschen in Russland hätten nie die Möglichkeit gehabt, ihre Opfer zu betrauern. Diese „nicht vollzogene Beweinung der Toten“ sei der Kern des Traumas der postsowjetischen russischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 beweist Gusejnovs Aufsatz seine Aktualität und bietet auch einen Ansatz, um zu verstehen, warum die russische Gesellschaft größtenteils apathisch auf den Krieg reagiert hat.
Die russische Gesellschaft sei so stark mit ihrem eigenen Statusverlust und der neuen Ordnung der postsowjetischen Welt beschäftigt, dass sie blind gegenüber den Lebens- und Leidensrealitäten anderer Nachfolgestaaten sei, so Gusejnov. Die Tatsache, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Befreiung, sondern als Kapitulation oder Niederlage gesehen werde, sei auch der Grund für die ablehnende Haltung gegenüber der Ukraine. Die Ukraine, die jahrhundertelang mit dem Russischen Reich und der Sowjetunion verflochten war, hat sich für eine Unabhängigkeit von Russland entschieden. Auch die Mehrsprachigkeit und Multinationalität des Landes sei für russische UdSSR-Nostalgiker ein Dorn im Auge, weil sie als Sinnbild für die Abgrenzung von der russisch-sowjetischen Hegemonie wahrgenommen werden.
Für seine Analyse der zeitgenössischen russischen Gesellschaft greift Gusejnov auf die berühmt gewordene Studie Die Unfähigkeit zu trauern (1967)
Dieses kollektive Trauma der russischen Gesellschaft habe sich vor allem in der Sprache niedergeschlagen, so Gusejnow. Gängige Begriffe der russischen Politiksprache seien zu „Schlüsselwörtern des historischen Augenblicks“ geworden und entfalten eine eigene Bedeutung: „Größte geopolitische Katastrophe“, „Chaos der 1990er“, „Erhebung von den Knien“ seien Ausdrücke, die den Untergang der Sowjetunion beschreiben, die allerdings den Fokus von dem echten erlebten Trauma verschieben. Das echte Trauma – die jahrzehntelange Unterdrückung, die Vernichtung verschiedener Bevölkerungsgruppen, die Deportationen und die Repressionen – sei ersetzt worden durch „die größte geopolitische Katastrophe“, den Zerfall der Staatsmaschine.