Mehr und mehr Menschen verstehen und erleben derzeit, wie ihre Lebensweise, ihre Entscheidungen und ihre Handlungsspielräume – kurz gesagt: ihre Freiheit – nicht nur durch autoritäre politische Strömungen oder Kriege bedroht werden, sondern zunehmend auch durch die Folgen des Klimawandels. Flutkatastrophen werden häufiger, selbst in Nordeuropa kommt es in vielen Regionen zu Wasserknappheit und die Preise für viele landwirtschaftliche Produkte steigen stark. Und je stärker diese Phänomene ins öffentliche Bewusstsein vordringen, desto energischer wird über einen angemessenen Umgang auf nationaler und globaler Ebene debattiert. Während es lange Zeit darum ging, den menschengemachten Klimawandel zu begrenzen, wird nun die Frage dringlicher, welche Folgen er für unsere Lebensweise und unsere Gesellschaften hat.
Dabei erfährt das Konzept Planetary Health viel Aufmerksamkeit, denn seine Befürworter beanspruchen für sich, den Schutz natürlicher Systeme mit den Erfordernissen menschlicher Gesundheit und menschlichen Wohlergehens zu verbinden: Wie schon der Name andeutet, soll Gesundheit nicht mehr innerhalb einzelner Gesellschaften betrachtet werden, sondern planetar. Die überzeugende Idee dahinter ist, dass es für effektive Maßnahmen im Umgang mit den immer gravierenderen Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme und zugleich für die menschliche Gesundheit eines Ansatzes bedarf, der beides nicht weiter getrennt voneinander betrachtet, sondern zusammen denkt. So entsteht die Vision einer Bündelung von Erkenntnissen aller relevanten wissenschaftlichen Disziplinen, um konkrete Strategien und Handlungsanweisungen auf nationaler und globaler Ebene entwickeln zu können.
Geht es uns um den Planeten oder um uns?
So einleuchtend dieses Konzept auf den ersten Blick erscheint, so stellt sich doch bei näherem Hinsehen der Eindruck ein, als ginge es trotz des planetarischen Anspruchs einzig und allein um die Sicherung der menschlichen Lebensgrundlage: „Einfach gesagt bezeichnet Planetary Health die Gesundheit der menschlichen Zivilisation und den Zustand der natürlichen Systeme, auf denen sie beruht.“
Zwar stammt das Konzept Planetary Health aus den Umwelt- und Gesundheitswissenschaften; aber mit zunehmender Popularität mehren sich auch Stimmen, die sich kritisch mit seinen philosophischen Grundlagen auseinandersetzen. So auch der Beitrag von Stephen M. Gardiner und Paul Tubig, in dem sie die ethischen Implikationen der Planetary-Health-Strategie beleuchten. Dazu unterscheiden sie zunächst eine deskriptive, beschreibende Ebene von einer normativen, wertenden. Die deskriptiven Belege für die potenziell katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit sind erdrückend: Die Abnahme der Biodiversität führt dazu, dass Menschen zunehmenden Risiken durch von Tieren auf Menschen übertragene Infektionskrankheiten ausgesetzt sind. So können Überschwemmungen, Sturmereignisse und Dürren die Verbreitung von Durchfallerkrankungen befördern, die bereits heute die zweithäufigste Todesursache für Kleinkinder darstellt. Neben Hitzeereignissen, die vor allem ältere Menschen gefährden, stellt Luftverschmutzung das weltweit bedeutendste umweltbedingte Gesundheitsrisiko dar und ist Ursache und Folge des Klimawandels zugleich. Und auch abgesehen von unmittelbaren Risiken für die menschliche Gesundheit sorgen klimatische Veränderungen zunehmend auch indirekt für Gefahren, etwa durch Ernteausfälle und mit ihnen verbundene Hungersnöte, aber auch durch Beeinträchtigung kritischer Gesundheitsinfrastruktur, wenn Waldbrände wie zuletzt in Kalifornien die Stromversorgung von Krankenhäusern einschränken.
Gesundheit oder Freiheit?
Diese düstere Diagnose für sich genommen reicht jedoch nicht, um sich auf geeignete Gegenmaßnahmen, auf eine Therapie zu einigen. Denn dafür bedarf es einer Verständigung über die normative Ebene: Welche Ziele sollten Maßnahmen haben, welche Werte sollten sie in den Mittelpunkt stellen? Dass solche Fragen weder trivial sind, noch als geklärt gelten können, zeigen Gardiner und Tubig in einer philosophischen Analyse der einschlägigen Definition des Planetary-Health-Konzepts. Deren Probleme machen sie vor allem am Anspruch fest, Planetary Health sei „die Erreichung des höchstmöglichen Niveaus an Gesundheit, Wohlergehen und Gerechtigkeit“.
Gardiner und Tubig weisen aber noch auf eine weitere Besonderheit hin: Selbst wenn die Orientierung an diesen drei Leitwerten für überzeugend gehalten wird, muss die Forderung nach ihrer absoluten Priorität vor allen anderen denkbaren Werten als hochproblematisch gelten. Das „höchstmögliche Niveau“ beispielsweise an Gesundheit als Ziel auszugeben, bedeutete konkret, dass alle anderen möglichen Ziele – seien sie nun anthropozentrisch oder nicht – so lange zurückgestellt werden müssten, bis diese Maximalforderung erreicht ist. Wir könnten uns beispielsweise erst um Freiheit bemühen, wenn das höchste Maß an Gesundheit gewährleistet ist. Das ist nicht nur philosophisch schwer begründbar, sondern auch lebensfremd. Zwar könnte man argumentieren, dass Freiheit ohne Gesundheit schwer denkbar sei und Krankheit durchaus eine Form der Unfreiheit darstelle. Daraus folgt aber noch lange nicht, dass wir uns in einem Zustand vollständiger Gesundheit auch notwendig als frei bezeichnen können, wie sich am Beispiel physisch und mental gesunder Gefängnisinsassen zeigen ließe.
Doch selbst dann, wenn wir von dieser Maximalforderung abrücken würden, bliebe die offene Frage übrig, ob es prinzipiell berechtigt ist, unsere menschlichen Interessen wie selbstverständlich zum einzigen Maßstab für einen effektiven Naturschutz zu machen. Die zentrale Einsicht, dass die menschliche Freiheit nicht nur von den Handlungen anderer Menschen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist, sondern zunehmend auch von den Folgen des menschengemachten Klimawandels, erfordert also auch eine ethische Neubestimmung unseres angespannten Verhältnisses zur Natur. Der Ansatz von Planetary Health kann in diesem Zusammenhang als vielversprechende Diskussionsgrundlage gelten, die aber zugleich einer philosophischen Aufklärung bedarf.