Alexey Uvarov, Politikwissenschaftler und Historiker, teilt die Geschichte des Erbstreits in sechs Phasen ein. Sein Beitrag erschien auf dem russisch-englischsprachigen Portal RiddleRussia, das von Litauen aus betrieben wird und am 29. November 2022 von der russischen Generalstaatsanwaltschaft als „unerwünschte Organisation“ eingestuft wurde.
Uvarov hebt in seiner Analyse hervor, dass eines der größten Probleme in den russisch-ukrainischen Beziehungen eine Unfähigkeit zum Kompromiss sei, die sich in den 2000er Jahren markant herausgebildet habe. Die Vorgeschichte lag aber bereits in den 1990er Jahren: Unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion waren alle ihre Nachfolgestaaten damit einverstanden, dass Russland sämtliche Auslandsschulden begleicht und dadurch auch das ganze Vermögen erhält – nur die Ukraine widersetzte sich diesem Urteil. 1994 akzeptierte die Ukraine diese „Null-Lösung“ mit dem Zusatz, dass die Ukraine von Russland Grundstücke im Ausland erhalten würde, insgesamt in 14 Ländern, darunter auch Deutschland, Griechenland, Bulgarien, China und der Mongolei.
Die Übereinkunft wurde letztlich nicht ratifiziert, da die Ukraine eine vollständige Auskunft über sowjetisches Vermögen einforderte. Russland ging auf diese Forderungen nicht ein und begann ab 2006 Schritte einzuleiten, die Uvarov als „radikal unilateral“ bezeichnet: Russland bezahlte die Schulden der Sowjetunion ab und beanspruchte das Auslandseigentum für sich selbst. Verhandlungen über Schulden und Vermögen wurden bis auf weiteres eingestellt.
Mit der russischen Annexion der Krim 2014 begann die Ukraine sich zum ersten Mal systematisch mit der Schulden- und Vermögensfrage im Nachfolgestreit zu beschäftigen, so Uvarov. Die ukrainische Regierung gründete Kommissionen, die sich dieser Thematik annahmen. Ziel sei es gewesen, das Vermögen Russlands für sich zu gewinnen, um so die Verluste durch die Annexion der Krim zu kompensieren.
In jüngster Zeit habe der russisch-ukrainische Streit um das finanzielle Erbe der Sowjetunion auch eine Rolle in politischen Entscheidungen Putins gespielt, so Uvarov. Im Februar 2022 behauptete Putin, dass Russland alle Schulden abbezahlt habe, während die Ukraine immer noch kein Eigentum an Russland zurückgegeben habe, obwohl dies Teil der Abmachung gewesen sei. Diese Abmachung habe es explizit nie gegeben, sagt Uvarov. Er hebt hervor, dass alle Handlungen Russlands auf Eigeninitiative beruht hätten und es nie eine konkrete Absprache mit der ukrainischen Führung gegeben habe.
Dass der Streit um das sowjetische Erbe noch lange nicht abgeschlossen ist, demonstrierte der russische Präsident Putin in seiner Ansprache am 21. Februar 2022, als die Volksrepubliken Donetsk und Luhansk anerkannt wurden. Putin sprach das Thema der Schulden in derselben Rede an: Russland habe alles getan und alle Schulden übernommen, aber die Ukraine wäre nie kompromissbereit gewesen und habe keines der Abkommen ratifiziert. Uvarov bewertet das Handeln Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion als überwiegend unilateral motiviert – und der Höhepunkt dieses unilateralen Handelns und der Ignoranz gegenüber der Ukraine sei die russische Invasion der Ukraine im Februar 2022.