Kiezdeutsch: Gebrochenes Deutsch oder neuer Dialekt?

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Kiezdeutsch: Gebrochenes Deutsch oder neuer Dialekt?

»Kiezdeutsch - ein neuer Dialekt«

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023

Seit Mitte der 1990er Jahren ist in deutschen Großstädten, besonders in Stadtteilen mit vielen (post-)migrantischen Einwohner*innen, eine neue Form des Deutschen zu hören. Sie zeichnet sich durch einen hohen Anteil insbesondere türkischer und arabischer Lehnwörter sowie durch eine spezifische Form der grammatischen Verdichtung aus. Die Germanistin Heike Wiese charakterisiert die Sprache als einen neuen Dialekt, der eine produktive Erweiterung für die deutsche Sprache darstellt.

„Kanak Sprak“ nannte der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu die Sprache einst. „Kanackiş“ nennt sie der Rapper Haftbefehl. In der Wissenschaft und der öffentlichen Debatte hat sich der Begriff „Kiezdeutsch“ etabliert. 

Heike Wiese ist eine der maßgeblichen Stimmen in der gegenwärtigen Forschung über Deutsch in multilingualen Kontexten. Sie wendet sich gegen eine landläufige Sprachkritik, in der Kiezdeutsch als gebrochenes Deutsch, als „Spracharmut“ oder Bedrohung für die deutsche Sprache charakterisiert wird. Wiese zeigt, dass Kiezdeutsch kein fehlerhaftes Deutsch ist. „Wir finden in Kiezdeutsch nicht bloß sprachliche Vereinfachung“, schreibt sie, „sondern eine systematische, produktive Erweiterung des Standarddeutschen.“

Die Sprache, die sich im gemeinsamen Alltag von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft entwickelt hat, zeugt für Wiese nicht von mangelndem Integrationswillen oder Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Sprache. Im Gegenteil: Kiezdeutsch sei „Zeichen für eine besonders gelungene sprachliche Integration: ein Beitrag aus multiethnischen Wohngebieten, an dem Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen beteiligt sind.“

Wiese zeigt, wie der Dialekt auf zwei Ebenen Neuerungen in die deutsche Sprache einführt, die auch von jungen Menschen ohne Migrationshintergrund aufgenommen werden. Die Lexik wird durch Vokabeln aus Sprachen wie dem Türkischen oder Arabischen erweitert. Die Aussprache wird dabei eingedeutscht und der Gebrauch findet nach den Regeln der deutschen Grammatik statt. 

Auch die Grammatik wird durch neue Ausdrucksformen erweitert. Was auf den ersten Blick eher als Vereinfachung, grammatische Reduktion oder Verfehlung erscheint („Das ist mein Schule“ oder „Hast du Handy?“), erweist sich für Wiese als Fortschreiben von sprachlichen Entwicklungen, die im System des Deutschen bereits angelegt sind. Dies ist vor allem die Tendenz, Flexionsendungen und funktionale Elemente wie den unbestimmten Artikel zu verkürzen oder wegzulassen. So heißt es im heutigen Deutsch nicht mehr „dem Manne“, sondern „dem Mann“. Ebenso entfallen in der gesprochenen Sprache häufig Personalendungen von Verben, also etwa „ich sag“ statt „ich sage“. Der unbestimmte Artikel „ein“ wird oft verkürzt und an das vorherige Wort gehängt: „Hast du'n Handy?“

Über derartige Verkürzungen hinaus entstehen im Kiezdeutsch gänzlich neue sprachliche Konstruktionen. Auch sie fügen sich in breitere sprachliche Entwicklungen im Deutschen ein, wie Wiese anhand von zwei Beispielsätzen aufzeigt: „Lassma Viktoriapark gehen!“  und „Musstu hier anhalten!“

Die Entstehung der beiden neuen Aufforderungspartikel („lassma“ und „musstu“) folgt für Wiese einem ähnlichen Muster, wie im Standarddeutschen etwa der Partikel „bitte“ aus der ursprünglich komplexen, flektierten Form „(ich) bitte“ entstanden ist. Da beide Aufforderungspartikel auf Verben zurückgehen, die mit Infinitiven kombiniert werden, folgt auch im Kiezdeutsch der Infinitiv. Dieses Schema, sagt Wiese, passe sich in das bestehende grammatische System des Deutschen ein, in dem Aufforderungen typischerweise durch Infinitivkonstruktionen ausgedrückt werden. „Musstu anhalten“ gleiche strukturell dem standarddeutschen „Bitte anhalten“ oder „Bei Rot anhalten“. Ebenso füge sich die Verwendung von „Viktoriapark“ als bloßes Nomen ohne Artikel und Präposition im Satz „Lassma Viktoriapark gehen“ in den bestehenden Sprachgebrauch ein. Es sei eine ähnliche Konstruktion wie jene, mit der im gesprochenen Deutsch häufig Wegauskünfte gegeben werden: „Dann steigen Sie Mollstraße aus.“

Wiese zeigt so, dass Kiezdeutsch eine in sich stimmige Varietät des Deutschen ist: „Wie jeder Dialekt ist es durch Abweichungen vom Standarddeutschen gekennzeichnet, diese sind aber systematisch und nicht bloße Fehler.“

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Grammatisch oft bestimmt als nicht flektierbares, also unveränderliches Wort, das weder Präposition noch Adverb noch Konjunktion ist. In der Praxis sind damit häufig kleine Einschübe gemeint, die eine Funktion erfüllen, zum Beispiel: eben, also, doch, bitte.

Ein Begriff, der häufig benutzt wird, um ein sprachliches System zu bezeichnen, ohne einen der wertenden Begriffe „Dialekt“ oder „Sprache“ zu benutzen.

Grundform des Verbs, die nicht durch Person, Numerus und Modus näher gekennzeichnet ist.

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