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Warum im Krieg das Unwissen verlockend ist

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Warum im Krieg das Unwissen verlockend ist

»Why Facts Won’t Beat Propaganda«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 15.05.2023

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 15.05.2023

Umfragen zufolge schenken große Teile der russischen Bevölkerung der Staatspropaganda Glauben – trotz gegenteiliger Fakten. Die Soziologen Anatoly Kropivnitskyi und Alya Denisenko beleuchten die Sozialpsychologie hinter den Vorzügen des Unwissens. Ihr Vergleich der gesellschaftlichen Einstellungen in Russland gegenüber der Invasion der Ukraine 2022 und der öffentlichen Meinung in den USA über den Einmarsch in den Irak 2003 zeigt, dass es sich nicht um ein spezifisch russisches Phänomen handelt.

Ein Vergleich beider Kriege liege nahe, so Kropivnitskyi und Denisenko. Denn die gesellschaftlichen Einstellungen der US-Bevölkerung während des Irakkriegs seien mittlerweile sehr gut erforscht und hätten bereits Fragen aufgeworfen, die nun auch mit Blick auf die Reaktion der russischen Bevölkerung auf die Invasion der Ukraine gestellt würden.1 In beiden Fällen lasse sich das Phänomen der „inferred justification“ (abgeleitete oder hergeleitete Rechtfertigung) beobachten. In einem 2009 veröffentlichten Fachartikel für die Zeitschrift Sociological Inquiry hatte eine Gruppe von Soziolog*innen erstmals diesen Begriff verwendet, um die Einstellungen von Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung zum Einmarsch in den Irak zu erfassen.2 

Der Begriff beschreibt den Umstand, dass Menschen zur Begründung einer politischen Position oder eines moralischen Urteils nicht unmittelbar verfügbare Fakten verwenden, sondern lediglich darauf verweisen, dass diese Fakten existieren bzw. existieren müssen. Statt auf empirische Begründung, werde auf sog. „situative Heuristiken“ zurückgegriffen: tief sitzende Vorstellungen von der Welt und ihrer Funktionsweise.3

Für den russischen Fall greifen Kropivnitskyi und Denisenko auf 213 qualitative Interviews zurück, die das Public Sociology Laboratory zwischen Februar und September 2022 in Russland durchgeführt hat. In den Interviews werde deutlich, dass viele Russ*innen den Krieg gegen die Ukraine als etwas so Bedeutungsvolles und Überraschendes ansehen, dass es für sie „einen Grund geben muss“, warum Putin den Befehl zur sog. „militärischen Spezialoperation“ gab. Die Aussagen der Befragten würden verdeutlichen, dass das „Vertrauen“ in die Entscheidung Putins als Strategie verstanden werden müsse, mit dem Schock der Invasion umzugehen. Das Ausblenden der Zerstörung und der Toten des Kriegs sowie des Schadens für Russland selbst erlaube es, den eigenen Alltag fortzuführen.

Trotz der Parallelen zu den USA – auch hier vertrauten viele Amerikaner*innen auf die Behauptung, Saddam Hussein sei in die Anschläge vom 11. September 2001 verwickelt gewesen – bestehe dennoch ein wichtiger Unterschied zur Reaktion der russischen Gesellschaft auf den Krieg: Während US-Amerikaner*innen vor allem zur Rationalisierung ihres eigenen Wahlverhaltens für George W. Bush auf inferred justifications zurückgegriffen hätten, fühlen sich Russ*innen laut den Interviews des Public Sociology Laboratory machtlos gegenüber der Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine. Während sich also die US-Bevölkerung – vermittelt durch demokratische Wahlen – als zumindest teilweise verantwortlich für den Einmarsch in den Irak versteht, verorten viele Russ*innen den Krieg gegen die Ukraine außerhalb ihres Einfluss- und damit Verantwortungsbereichs. Letzteres bedeutet nicht, dass der Krieg gegen den Willen von Teilen der russischen Bevölkerung geführt wird. Allerdings erklärt es den Mangel an Anteilnahme an den Folgen des Kriegs.

Die feste Überzeugung vieler Russ*innen, es „müsse einen plausiblen Grund“ für die Invasion geben, bedeutet laut Kropivnitskyi und Denisenko auch, dass das Präsentieren von Fakten – etwa Bilder toter Ukrainer*innen oder russischer Raketeneinschläge auf Wohnhäuser – nicht ausreicht, um die russische Gesellschaft von der verbrecherischen Natur des Kriegs zu überzeugen. Wichtiger sei, dass das offizielle, vom russischen Staat lancierte Narrativ Risse bekomme.4 In den öffentlichen Äußerungen des Kreml-Pressesprechers Dmitri Peskow oder des russischen Metropoliten Tichon Schewkunow im November 2022, denen zufolge die Ziele Russlands auch auf friedlichem Weg erreicht werden können,5 sehen Kropivnitskyi und Denisenko erste Anzeichen für Inkonsistenzen in der Staatspropaganda. Somit könnte sich die öffentliche Meinung im Laufe des Kriegs als ähnlich „elastisch“ erweisen, wie die Forschung es für den Irakkrieg beschrieben hat: Erst das Zusammenspiel aus Kriegsverlauf, einem Wandel der Rhetorik der Elite und der öffentlichen Verfügbarkeit von besseren Informationen habe in der Gesellschaft ein realistisches Bild des Kriegs ermöglicht.6

Fußnoten
6

D. C. Foyle: Leading the Public To War? The Influence of American Public Opinion on the Bush Administration's Decision to go to War in Iraq. In: International Journal of Public Opinion Research. Band 16, Nr. 3, 2004, S. 269–294. https://doi.org/10.1093/ijpor/edh025; Matthew A. Baum und Tim Groeling: Reality Asserts Itself. Public Opinion on Iraq and the Elasticity of Reality. In: International Organization. Band 64, Nr. 3, 2010, S. 443–479. https://doi.org/10.1017/S0020818310000172; Gary C. Jacobson: A Tale of Two Wars. Public Opinion on the U.S. Military Interventions in Afghanistan and Iraq. In: Presidential Studies Quarterly. Band 40, Nr. 4, 2010, S. 585–610. https://doi.org/10.1111/j.1741-5705.2010.03802.x; Amy Gershkoff und Shana Kushner: Shaping Public Opinion. The 9/11-Iraq Connection in the Bush Administration's Rhetoric. In: Perspectives on Politics. Band 3, Nr. 3, 2005, S. 525–537. https://doi.org/10.1017/S1537592705050334

Monica Prasad et al.: “There Must Be a Reason”. Osama, Saddam, and Inferred Justification. In: Sociological Inquiry. Band 79, Nr. 2, 2009, S. 142–162. https://doi.org/10.1111/j.1475-682X.2009.00280.x

Richard R. Lau und David P. Redlawsk: Advantages and Disadvantages of Cognitive Heuristics in Political Decision Making. In: American Journal of Political Science. Band 45, Nr. 4, 2001, S. 951–971. https://doi.org/10.2307/2669334

Maxim Alyukov: Propaganda, authoritarianism and Russia's invasion of Ukraine. In: Nature Human Behaviour. Band 6, Nr. 6, 2022, S. 763–765. https://doi.org/10.1038/s41562-022-01375-x

Während Peskow darauf hinwies, dass die „Ziele der ‚militärischen Spezialoperation’ auch auf dem Weg von Verhandlungen erreicht werden können”, forderte Tichon „beide Seiten zum Frieden” auf. Gleichzeitig verwies Peskow darauf, dass die Ziele Russlands auch im Falle von Verhandlungen erreicht werden müssten.

Matthew A. Baum und Tim Groeling: Reality Asserts Itself. Public Opinion on Iraq and the Elasticity of Reality. In: International Organization. Band 64, Nr. 3, 2010, S. 443–479. https://doi.org/10.1017/S0020818310000172

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