Ein Vergleich beider Kriege liege nahe, so Kropivnitskyi und Denisenko. Denn die gesellschaftlichen Einstellungen der US-Bevölkerung während des Irakkriegs seien mittlerweile sehr gut erforscht und hätten bereits Fragen aufgeworfen, die nun auch mit Blick auf die Reaktion der russischen Bevölkerung auf die Invasion der Ukraine gestellt würden.
Der Begriff beschreibt den Umstand, dass Menschen zur Begründung einer politischen Position oder eines moralischen Urteils nicht unmittelbar verfügbare Fakten verwenden, sondern lediglich darauf verweisen, dass diese Fakten existieren bzw. existieren müssen. Statt auf empirische Begründung, werde auf sog. „situative Heuristiken“ zurückgegriffen: tief sitzende Vorstellungen von der Welt und ihrer Funktionsweise.
Für den russischen Fall greifen Kropivnitskyi und Denisenko auf 213 qualitative Interviews zurück, die das Public Sociology Laboratory zwischen Februar und September 2022 in Russland durchgeführt hat. In den Interviews werde deutlich, dass viele Russ*innen den Krieg gegen die Ukraine als etwas so Bedeutungsvolles und Überraschendes ansehen, dass es für sie „einen Grund geben muss“, warum Putin den Befehl zur sog. „militärischen Spezialoperation“ gab. Die Aussagen der Befragten würden verdeutlichen, dass das „Vertrauen“ in die Entscheidung Putins als Strategie verstanden werden müsse, mit dem Schock der Invasion umzugehen. Das Ausblenden der Zerstörung und der Toten des Kriegs sowie des Schadens für Russland selbst erlaube es, den eigenen Alltag fortzuführen.
Trotz der Parallelen zu den USA – auch hier vertrauten viele Amerikaner*innen auf die Behauptung, Saddam Hussein sei in die Anschläge vom 11. September 2001 verwickelt gewesen – bestehe dennoch ein wichtiger Unterschied zur Reaktion der russischen Gesellschaft auf den Krieg: Während US-Amerikaner*innen vor allem zur Rationalisierung ihres eigenen Wahlverhaltens für George W. Bush auf inferred justifications zurückgegriffen hätten, fühlen sich Russ*innen laut den Interviews des Public Sociology Laboratory machtlos gegenüber der Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine. Während sich also die US-Bevölkerung – vermittelt durch demokratische Wahlen – als zumindest teilweise verantwortlich für den Einmarsch in den Irak versteht, verorten viele Russ*innen den Krieg gegen die Ukraine außerhalb ihres Einfluss- und damit Verantwortungsbereichs. Letzteres bedeutet nicht, dass der Krieg gegen den Willen von Teilen der russischen Bevölkerung geführt wird. Allerdings erklärt es den Mangel an Anteilnahme an den Folgen des Kriegs.
Die feste Überzeugung vieler Russ*innen, es „müsse einen plausiblen Grund“ für die Invasion geben, bedeutet laut Kropivnitskyi und Denisenko auch, dass das Präsentieren von Fakten – etwa Bilder toter Ukrainer*innen oder russischer Raketeneinschläge auf Wohnhäuser – nicht ausreicht, um die russische Gesellschaft von der verbrecherischen Natur des Kriegs zu überzeugen. Wichtiger sei, dass das offizielle, vom russischen Staat lancierte Narrativ Risse bekomme.