Um ein Territorium einzunehmen und Kontrolle darüber zu gewinnen, reiche militärische Gewalt allein nicht aus, so Tatiana Zhurzhenko. Auf der Krim und im Donbass führte Russland bekanntlich Scheinreferenden durch und ließ Volksrepubliken proklamieren. Doch im Zuge der Invasion der Ukraine im Februar 2022 kamen auch andere neue Mittel der Machtkonsolidierung hinzu.
Russland richtete eigene militärisch-zivile Verwaltungen in besetzten Gebieten ein, die die Aufgaben der Kommunalverwaltung übernehmen sollten. Zeitgleich existierten über mehrere Monate hinweg die ukrainischen Kommunalstrukturen weiter, da niemand mit den Besatzungsbehörden kollaborieren wollte. Um die Kollaboration zu erzwingen, hätten russische Soldaten wichtige lokale Persönlichkeiten entführt und gefoltert, schreibt Zhurzhenko unter Berufung auf Presse- und Augenzeugenberichte aus dem befreiten Cherson.
Um Loyalität zum russischen Staat zu schaffen, wird die ukrainische Gesellschaft russifiziert: Propaganda-Plakate, die an die Größe und Stärke des historischen russischen Imperiums erinnern sollen, hängen im öffentlichen Raum, russische Nationalfeiertage werden eingeführt und man setzt auf sowjetische Nostalgie. Gerade diese Sowjet-Nostalgie findet Zhurzhenko besonders ironisch: Lenin-Denkmäler werden wieder aufgestellt, obwohl Putin in seiner Ansprache im Februar 2022 noch Lenin für die Erschaffung des ukrainischen Staates verantwortlich gemacht hatte.
Ein weiterer Weg zur erzwungenen Loyalität und Kollaboration liegt in der ökonomischen Abhängigkeit. Die Besatzer machen die Bevölkerung vor Ort in lebenswichtigen Bereichen abhängig von Russland: Ukrainische SIM-Karten funktionieren nicht mehr und müssen durch russische ersetzt werden, was wiederum eine weitgehende Überwachung ermöglicht. Der Rubel wird als Währung zusammen mit russischen Banksystemen eingeführt, Renten und Gehälter werden nicht ausgezahlt, Supermärkte und die medizinische Versorgung sind auf russische Lieferungen angewiesen. Dazu kommt noch die forcierte Zuteilung der russischen Staatsbürgerschaft, denn für gewisse Handelstätigkeiten benötigt man einen Pass – der ukrainische wird nicht mehr anerkannt.
Der Eingriff der russischen Besatzer in das Leben der ukrainischen Zivilgesellschaft zielt also auf viele Bereiche des Alltags ab. Dies verkompliziert eine objektive Bewertung, inwieweit die Bevölkerung in den besetzten Gebieten mit den Besatzern zusammenarbeitet. Zwei Gesetzeserlasse der ukrainischen Regierung von März 2022 erhöhen dabei den Druck auf die Menschen vor Ort: Sie sehen für Kollaboration — die per Definition von öffentlichem Lob für die Besatzer bis hin zu Kooperation mit bewaffneten Einheiten reichen kann — eine Freiheitsstrafe von zehn bis 15 Jahren vor.
Zhurzhenko sieht dies kritisch: Man könne nicht jedem „Kollaborateur“ eine aktive Unterstützung des russischen Krieges unterstellen. Kollaboration könne, so die Autorin, immer das Resultat von Gewaltandrohung, Zwang, Erpressung oder finanzieller Not sein. Dass es viele Grauzonen und Komplikationen in der Bewertung von Kollaboration gibt, zeigte jüngst Joshua Yaffas Reportage The Hunt for Russian Collaborators in Ukraine für das Magazin The New Yorker auf. Mit der Befreiung einst besetzter Territorien dürfte sich die Ermittlung von Kollaborateuren noch weiter verkomplizieren.