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Der Globale Süden will keinen Systemkonflikt

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Johannes Plagemann2022
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Der Globale Süden will keinen Systemkonflikt

»Die Ukraine-Krise im Globalen Süden: kein „Epochenbruch“«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 07.11.2022

te.ma DOI http://doi.org/10.57964/9f3e-x424

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 07.11.2022
te.ma DOI http://doi.org/10.57964/9f3e-x424

Im Westen gilt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als „Epochenbruch“ bzw.  „Zeitenwende“. Im Globalen Süden wird der Krieg jedoch anders wahrgenommen. Die meisten Staaten Afrikas, Asiens, des Nahen Ostens und Lateinamerikas tragen die Sanktionen gegenüber Russland nicht mit. Der Politikwissenschaftler Johannes Plagemann nennt drei Gründe dafür.

Die Abstimmung in der UN-Vollversammlung am 12. Oktober 2022, die die illegale Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland mit großer Mehrheit verurteilte, wurde als „Zeichen einer internationalen Allianz gegen Putin“ bezeichnet und als „klare internationale Isolation Russlands“ gedeutet

Für Johannes Plagemann vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) ist das UN-Abstimmungsergebnis jedoch nicht unbedingt ein Zeichen der globalen Geschlossenheit. Die Einigkeit der Vereinten Nationen verdecke, so Plagemanns Argument, dass die große Mehrzahl der Staaten im Globalen Süden eine andere Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts hat als der Westen. Kleine und mittelgroße Staaten in Asien, Afrika, Nahost und Lateinamerika lehnen den Einmarsch Russlands zwar grundsätzlich ab. Doch gleichzeitig wollen sie sich nicht in einen als europäisches Problem wahrgenommenen Konflikt hineinziehen lassen. Anhand seiner drei Thesen schildert der Autor die Gründe für diese ambivalente Haltung. 

Der erste Grund hat mit unterschiedlichen Wahrnehmungen der Reichweite der Kriegsereignisse zu tun. Während Europa Russland als die größte sicherheitspolitische Bedrohung sieht, ergibt sich für die meisten Staaten im Globalen Süden aufgrund der geografischen Entfernung kein direktes Bedrohungsszenario. Dass mit der Ukraine nun ein europäisches Land betroffen ist und sich die europäische Sicherheitsarchitektur als instabil erwiesen hat, markiert für sie noch keinen Epochenbruch. Dementsprechend findet der Ukraine-Krieg in der Öffentlichkeit vieler dieser Staaten entweder kaum oder unter anderen Vorzeichen als in Europa statt. Zum Beispiel wenn es darum geht, die Folgen für die Weltwirtschaft zu diskutieren. 

Der zweite Grund betrifft die partikularen ökonomischen Interessen des Globalen Südens: Es geht um Rüstungsimporte aus Russland sowie den Import und Export von Weizen, Düngemitteln und anderen Rohstoffen. Als Beispiele nennt Plagemann Ägypten, Algerien und China, die große Mengen an Waffen aus Russland beziehen. Auch für Indien und Vietnam ist Russland ein wichtiger Lieferant von Rüstungsgütern. Weizen aus Russland ist Grundnahrungsmittel im Nahen Osten und Nordafrika, während Brasilien und asiatische Staaten große Mengen an russischen Düngemitteln beziehen, die für die Agrarwirtschaft unverzichtbar sind. 

Der dritte Grund ist wohl der wichtigste. Ihre zurückhaltende Position erlaubt es den Staaten des Globalen Südens, wählen zu können, mit wem sie kooperieren. Dadurch können sie ihre Autonomie1 in einer zunehmend von Großmachtrivalitäten geprägten Welt bewahren. Laut Plagemann teilen die politischen Eliten in vielen Ländern im Globalen Süden ferner die Auffassung, dass die USA als alleinige Supermacht ausgedient haben und dass die Welt multipolar ist, bald sein wird oder sein sollte. Sie sehen den globalen geopolitischen Kontext weit komplexer und nicht als bloße Zweiteilung in den russisch-chinesischen Block auf der einen und den westlichen Block auf der anderen Seite.

Der Autor erinnert außerdem daran, dass die USA im letzten Jahrhundert in Staaten wie Mosambik oder Angola blutige Stellvertreterkriege gegen die von der Sowjetunion gestützten Befreiungsbewegungen führten.2 Insofern verwundere es nicht, dass sich Mosambik sowie Südafrika, Simbabwe und Angola in den Vereinten Nationen Anfang März 2022 enthalten hätten.

Plagemann kommt zum Schluss, dass eine Außenpolitik mit dem Ziel, Russland oder China auszuschließen, wenig erfolgversprechend sei. Im Globalen Süden fänden sich nur wenige euphorische Abnehmer für den von der Biden-Administration ausgerufenen globalen Wettstreit zwischen Autokratien und Demokratien. Er empfiehlt Deutschland und Europa, sich darauf zu konzentrieren, Alternativen zu Russland und China anzubieten, etwa im Rahmen der im Dezember 2021 vorgestellten Global Gateway Initiative. Die EU sollte nicht bloß konkurrieren, sondern sich positiv von Russland und China absetzen können. Das gelingt laut Plagemann am besten, wenn die EU sich glaubwürdig für wirkungsvolle globale multilaterale Institutionen einsetzt, in denen alle Staaten des Globalen Südens – große wie kleine – eine Stimme haben.


Fußnoten
2

Als erfolgreiches Beispiel einer Außenpolitik im Sinne einer Autonomie durch Diversifizierung der Kooperationspartner gilt die Politik Brasiliens unter dem Präsidenten Lula da Silva (2003-2011). Siehe dazu Tullo Vigevani und Gabriel Cepaluni: Lula’s foreign policy and the quest for autonomy through diversification. In: Third World Quarterly. Band 28, Nr. 7, 2007, S. 1309-1326. 

Siehe dazu William Minter: The US and the War in Angola. In: Review of African Political Economy, Nr. 50, 1991, S. 135-144 und Stephen Emerson: Mozambican Civil War: Marxist-Apartheid Proxy, 1977–1992. Pen & Sword, 2019. 

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In seiner Analyse bezieht der Autor sich zwar noch auf die erste UN-Abstimmung am 2. März 2022, die den russischen Einmarsch verurteilte. Mehr als ein halbes Jahr später haben sich die Verhältnisse aber nicht grundsätzlich verändert. Beide Male stimmten nur Belarus, Nordkorea und Syrien (sowie Eritrea bzw. Nicaragua)  plus Russland selbst dagegen, während 141 bzw. 143 von 193 Staaten die Verurteilung unterstützten.

Der Begriff „Globaler Süden“ bezieht sich im weitesten Sinne auf die Regionen Lateinamerikas, Asiens, Afrikas und Ozeaniens. Er fungiert heutzutage als Ersatz für die Bezeichnungen „Dritte Welt“ und „Peripherie“, die traditionell auf Regionen außerhalb Europas und Nordamerika angewandt wurden, die ein niedriges Einkommen hatten und meist (wenn auch nicht alle) politisch marginalisiert waren. Mit dem Ende des Kalten Krieges fanden die Begriffe „Globaler Norden“ und „Globaler Süden“ Eingang in akademische Bereiche wie Internationale Beziehungen, Politikwissenschaft und Entwicklungsstudien. Anfangs noch hauptsächlich von staatlichen Entwicklungsorganisationen als politische Ordnungskategorie verwendet, markiert der Begriff heute eine Verschiebung des Fokus von Entwicklung auf Betonung geopolitischer Machtverhältnisse.

Die Nord-Süd-Sprache bietet eine Alternative zum Konzept der „Globalisierung“ und stellt den Glauben an eine zunehmende Homogenisierung der Kulturen und Gesellschaften in Frage.

Am 12. Oktober hat Angola seine Position allerdings geändert und Russland verurteilt, während Mosambik, Südafrika und Simbabwe sich auch diesmal enthalten haben.

Die Initiative ist ein Angebot der EU an ihre globalen Partner, insbesondere die Schwellen- und Entwicklungsländer. Sie sieht umfangreiche Investitionen in die Infrastrukturentwicklung vor. Geplant ist, dass die EU-Organe und die EU-Mitgliedstaaten zwischen 2021 und 2027 bis zu 300 Mrd. EUR an Investitionen für die Bereiche Digitales, Klima und Energie, Verkehr, Gesundheit und Bildung mobilisieren. Zu konkreten Vorhaben zählen, unter anderem, eine neue Unterwasserkabelverbindung zum Datentransport zwischen der EU und Lateinamerika und der Einsatz von grünem Wasserstoff.

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