Snyders Diagnose reiht sich in seine jüngeren Arbeiten zu den globalen Gefahren für die Demokratie ein. In der 2018 erschienenen Monografie The Road to Unfreedom. Russia, Europe, America zeigt er, dass Länder wie Russland gezielt versuchen, westliche Demokratien zu schwächen, und dabei vor allem auf deren bereits bestehende, innere Schwächen zielen.
Snyders im Juni 2022 veröffentlichter Kommentar in der New York Times geht jedoch über eine wissenschaftlich begründete Kritik des russischen Autokratieexports hinaus. Russlands Politik sei faschistisch, gefährlich und sollte entschieden und mit den härtesten Mitteln bekämpft werden. Alle wichtigen Merkmale des Faschismus seien im Russland Putins gegeben, erst recht nach dem Überfall auf die Ukraine: ein Führerkult, in dessen Mittelpunkt Putin selbst steht, ein Totenkult, der auf der Überhöhung des Zweiten Weltkriegs fußt, sowie ein Mythos einer vergangenen goldenen Ära imperialer Größe, die es durch Gewalt wiederherzustellen gelte.
Snyder ist nicht der einzige Vertreter der Faschismus-These in Bezug auf Russland. Auch Autoren wie Alexander Motyl oder Vladislav Inozemtsev argumentieren seit Jahren in dieselbe Richtung. Der Zuspruch für ihre Thesen ist allerdings überschaubar geblieben. So hat sich mittlerweile ein Gegendiskurs gebildet, angeführt von der Politikwissenschaftlerin Marlène Laruelle. Sie kritisiert die Anwendung des Faschismus-Begriffs auf das gegenwärtige Russland, sowohl aus analytischen Gründen – in Russland fehle vor allem die für den Faschismus typische gesellschaftliche Mobilisierungsdynamik – als auch in Hinblick auf die politischen Konsequenzen.
Snyder sind die politischen Implikationen seiner Analyse bewusst. Ihm zufolge verstünden wir heute besser als in den 1930er Jahren, zu was Faschismus in der Lage ist, wenn er nicht gestoppt wird. Ohne dies weiter zu konkretisieren, fordert er im Lichte des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass „diejenigen, die sich dem Faschismus entgegenstellen, das Notwendige tun müssen, um ihn zu besiegen. Erst dann fallen dessen Mythen in sich zusammen“.