Warum Einflusssphären nie verschwunden waren

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Emma Ashford2023

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 30.05.2023

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 30.05.2023

Der US-Politikwissenschaftlerin Emma Ashford zufolge macht der Ukrainekrieg deutlich, was ein Wettbewerb der Großmächte anrichten kann, wenn er schlecht gemanagt wird. Sie warnt ferner vor übermäßigem westlichen Triumphalismus und davor, die Augen vor der Realität von Einflusssphären zu verschließen, die sich in der Ukraine offenbart hat.

Seit einigen Jahren erlebt das Konzept von „Einflusssphären“ ein Comeback im wissenschaftlichen, aber auch im politischen Diskurs. Der Konflikt rund um die Ukraine war dafür, wie der Soziologe Simon Hecke richtig anmerkt, ein wichtiger Katalysator. Manche betrachten das Konzept als einen Anachronismus aus dem Zeitalter des Imperialismus, während andere darin ein zentrales Element des internationalen Systems sehen. 

In einer gemeinsamen Erklärung mit US-Präsident Joe Biden brachte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 25. März 2022 ihre Auffassung zum Ausdruck: „Putin versucht, die Uhr in eine andere Zeit zurückzudrehen, eine Ära der brutalen Gewaltanwendung, der Machtpolitik, der Einflusssphären und der inneren Unterdrückung. Ich bin zuversichtlich, dass er damit scheitern wird.“ 

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Emma Ashford argumentiert in ihrem Text hingegen, dass der Krieg in der Ukraine der internationalen Gemeinschaft gerade vor Augen führt, dass Einflusssphären kein Anachronismus, sondern die harte Realität der internationalen Politik sind und schon immer waren. Ihrer Meinung nach entschied sich Putin für eine riskante und kostspielige Militäroperation aufgrund der Gefahr, dass die Ukraine Russlands Einflussbereich für immer verlassen könnte und weil die USA ihm keine Zugeständnisse machen wollten.1 Wäre Washington ihm entgegengekommen, hätte es, so Ashford, die Grenzen seines eigenen Einflusses akzeptieren müssen.

Im geopolitischen Sinne stehe der Krieg in der Ukraine somit sinnbildlich für einen Kampf um Einflusssphären in der Weltpolitik.2 Der Begriff „Einflusssphäre“ ist im Kontext der imperialistischen Politik europäischer Mächte im 19. Jahrhundert entstanden und ist bis heute stark negativ belegt.3 Ashford behauptet, dass das Konzept dadurch grundlegend missverstanden werde: Eine Einflusssphäre müsse nicht bedeuten, dass Großmächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg Vereinbarungen über ihre jeweiligen Einflussbereiche treffen. Vielmehr seien Einflusssphären bloß Tatsachen, die sich aus geografischen und machtpolitischen Konstellationen ergeben. Sie seien ein Ort, an dem eine Großmacht ihre Vorherrschaft behaupte und eine andere nicht bereit sei, sie herauszufordern, weil die Kosten dafür zu hoch wären.

In der Weigerung die Realität von Einflusssphären anzuerkennen sieht Ashford einen gravierenden Fehler der US-Politik in der Ukraine.4 Diesen führt sie darauf zurück, dass nach dem Ende des Kalten Krieges „die ganze Welt de facto zu einer US-amerikanischen Sphäre geworden ist.“5 Heute jedoch trete die Welt in eine Phase ein, in der die US-amerikanische Macht infrage gestellt werde und Russland und China zunehmend in der Lage seien, ihre eigenen Interessen in ihren jeweiligen Regionen durchzusetzen.

Die brutale Realität der internationalen Politik bedeute für kleinere Länder allerdings nicht, durch ihre größeren Nachbarn zwingend erobert zu werden. Kleinere Staaten können heute ihre eigenen militärischen Fähigkeiten ausbauen und Unterstützung von anderen Ländern erhalten, um ihre größeren Nachbarn abzuschrecken. Als Beispiel nennt die Autorin Taiwan, das von den USA erstmals direkte Militärhilfe bekommen soll. 

Auch die Ukraine wird massiv mit modernen Waffen aus dem Westen unterstützt, um die russische Aggression abzuwehren. Im Falle der Ukraine konnten die Waffenlieferungen Russland jedoch bis jetzt nicht zum Rückzug bewegen, und auch China schreckt vor Militärmanövern vor Taiwans Küste nicht zurück.6 Dass ein kleiner Staat dem Willen seines großen Nachbarn trotzdem ausgeliefert sein kann, zeigt das Beispiel von Belarus, wohin Russland taktische Atomwaffen verlegen will, oder die Republik Moldau, in deren abtrünniger Provinz Transnistrien seit Jahren russische Truppen stationiert sind. Darauf geht Ashford nicht ein. Mit ihren Beispielen deutet sie aber an, dass die Anerkennung machtpolitischer Realitäten nicht heißt, die Bestrebungen der Großmächte, ihren Einflussbereich abzusichern, einfach hinzunehmen. 

Die machtpolitische Realität wäre beim Formulieren außenpolitischer Strategien allerdings zu berücksichtigen. Die mangelnde Bereitschaft der USA, einen alternativen Weg für die Ukraine, Georgien, Moldawien in Betracht zu ziehen, trug Ashford zufolge zum giftigen Gemisch aus politischen Streitigkeiten, Sicherheitsbedenken und imperialistischen Ambitionen bei, die den Krieg in der Ukraine verursachten. Wie auch immer dieser Krieg ausgehe, es sei ein politisches Versagen, dass er überhaupt stattgefunden habe. 

In einer Zeit, in der die Grenzen der westlichen Einflusssphäre hinterfragt werden und mit denen Russlands und Chinas in Konflikt treten, könnten die richtigen Lehren aus dem Konflikt um die Ukraine nicht dringlicher sein.

Fußnoten
6

Wenige Wochen vor der Invasion Russlands sagte der US-Außenminister Antony Blinken, dass es bei der Politik der offenen Tür der Nato keine Änderung geben werde. Er begründete dies mit Grundprinzipien, die verteidigt werden müssen, darunter das Recht der Staaten, ihre eigenen Bündnisse zu wählen: https://www.cnn.com/2022/01/27/europe/ukraine-russia-news-thursday-lavrov-intl/index.html.

Mit anderen Worten zeugt dieser Krieg von der Relevanz des Raumes und räumlicher Faktoren (neben Interessen und Perzeptionen) in der internationalen Politik. Robert Meyer spricht in diesem Zusammenhang vom geopolitischen Denken, das für ihn auf zwei Prämissen beruht: 1) dass geografische Strukturen eine entscheidende Bedingung zur Ausformung der politischen Verhältnisse seien und 2) dass es auf die Bedeutung ankomme, die Theoretiker und Praktiker der internationalen Beziehungen den spezifischen geografischen Grundmustern zuordnen, und darauf, inwieweit sie diese in ihre konzeptionellen Überlegungen aufnehmen. Wie Meyer beteuert, seien „weltpolitisches und politisches Denken nicht ungebunden und voraussetzungsfrei, sondern stets eingebunden in den räumlichen und zeitlichen Horizont ihres Entstehungskontextes“. Siehe Robert Meyer: Europa zwischen Land und Meer. Geopolitisches Denken und geopolitische Europa-Modelle nach der „Raumrevolution“. Bonn, 2011. Hans Mouritzen und Anders Wivel kritisieren, dass Geopolitik in der Nachkriegszeit zugunsten des Realismus aufgegeben worden sei. S. Hans Mauritzen & Anders Wivel: Explaining Foreign Policy. International Diplomacy and the Russo-Georgian War.Lynne Rienner Publishers, Colorado, 2012. Laut Thierry de Montbrial nehmen räumliche Faktoren, die geografische Analyse und somit Geopolitik als Theorie und Methode auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen einen immer prominenteren Platz ein, denn die Wissenschaft der internationalen Beziehungen sei ohne Geographie nicht denkbar. S. Thierry de Montbrial: Action and reaction in the world system, University of British Columbia, Vancouver, 2013. 

Kurz vor Ausbruch des Ukrainekrieg sprach der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Februar 2022 von einer „Wiederkehr von Einflusszonen“: https://www.zeit.de/2022/07/ost-west-konflikt-geschichte-usa-russland?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F

Zum Beispiel: Auf dem Berliner Kongress von 1878 wurde die Aufteilung von Einflusssphären in Südosteuropa vereinbart: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/aussenpolitik/berliner-kongress-1878.html; Die Berliner Kongo-Konferenz von 1884-1885 bildete die Grundlage für die Aufteilung Afrikas: https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/sitzung-der-internationalen-kongo-konferenz-in-berlin-1884.html; Mit dem Londoner Vertrag von 1913 wurde eine Neuaufteilung der Einflusssphären in Südosteuropa vorgenommen: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/156349/1913-als-kriegsjahr-suedosteuropa-und-die-balkankriege/

Zumal die USA selber nicht bereit sind, auf ihre regionale Vormachtstellung zu verzichten. Zuletzt deutete das 2018 der damalige US-Staatssekretär Rex Tillerson kurz vor seiner Reise nach Lateinamerika an. Er meinte, die Monroe Doktrin, welche Lateinamerika 1823 zur exklusiven Einflusszone der USA deklarierte, sei ein Erfolg gewesen und heute noch genauso relevant wie im 19. Jahrhundert: https://foreignpolicy.com/2018/02/02/tillerson-praises-monroe-doctrine-warns-latin-america-off-imperial-chinese-ambitions-mexico-south-america-nafta-diplomacy-trump-trade-venezuela-maduro/ 

In ihrer aktuellen Sicherheitsstrategie sprechen die USA von der Absicht, die westliche Hemisphäre gegen Einmischung oder Zwang von außen, z.B. durch die Volksrepublik China, Russland oder den Iran, zu schützen (S. 41): https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris-Administrations-National-Security-Strategy-10.2022.pdf

Das Zitat stammt aus einem Kommentar des Politikwissenschaftlers Graham Allison in Foreign Affairs aus dem Jahr 2020. Darin stellte er fest. „Die Unipolarität ist vorbei und damit auch die Illusion, dass andere Nationen einfach den ihnen zugewiesenen Platz in einer von den USA geführten internationalen Ordnung einnehmen würden.“https://www.hks.harvard.edu/sites/default/files/HKSEE/HKSEE%20PDFs/Allison_Spheres%20of%20Influence%2C%20Foreign%20Affairs%2C%20March-April%202020.pdf

Gleichzeitig betonen die Bewohner Taiwans, dass die chinesischen Manöver sie nicht beunruhigen würden, weil sie sich auf die Unterstützung der USA verlassen können, was die These von Ashford bestätigt: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taiwan-manoever-101.html

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Der Begriff „Einflusssphäre" bezeichnet in der internationalen Politik den Anspruch eines Staates auf politische, ökonomische, militärische oder kulturelle Kontrolle über ein Gebiet oder Territorium. Es kann sich sowohl von einem Anspruch auf eine ausschließliche Kontrolle handeln, den andere Staaten anerkennen können oder nicht, oder von einer rechtlichen Vereinbarung, durch die sich ein anderer Staat verpflichtet, von Einmischungen in diese Einflusssphäre abzusehen.

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