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Warum es gefährlich ist, Russland faschistisch zu nennen

Re-Paper
Marlene Laruelle2022
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Warum es gefährlich ist, Russland faschistisch zu nennen

»So, Is Russia Fascist Now? Labels and Policy Implications«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 11.11.2022

te.ma DOI https://www.doi.org/10.57964/bta5-ev38

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 11.11.2022
te.ma DOI https://www.doi.org/10.57964/bta5-ev38

Maskuliner Führerkult, Z-Symbole, Glorifizierung des Militärischen: Hat sich Russland zu einem faschistischen Regime entwickelt? Marlene Laruelle rät zur Vorsicht. Der Gebrauch des Faschismus-Begriffs sei weder analytisch sinnvoll noch hätten dessen Verfechter ein ausreichendes Bewusstsein für die politischen Implikationen, die eine solche Einordnung mit sich bringt.

Für Laruelle, eine der produktivsten Forscher*innen zum postsowjetischen Raum, stellt die Frage des russischen Faschismus kein Neuland dar. Bereits ein Jahr vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 veröffentlichte sie eine Monographie mit dem Titel Is Russia Fascist?, in der sie die inflationäre Verwendung des Begriffes kritisierte.1 So weist sie die Analysen etwa Alexander Motyls oder Timothy Snyders zurück, die das sich seit der Annexion der Krim 2014 herausgebildete russische Regime als faschistisch klassifizieren – Positionen, die beide Autoren in den Wochen nach Kriegsbeginn noch einmal unterstrichen haben.2

Auch nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 sieht Laruelle keinen Grund, von ihrer früheren Kritik abzurücken. In ihrer Intervention So, Is Russia Fascist Now? argumentiert sie, dass in Russland auch nach Kriegsbeginn drei wesentliche Elemente des Faschismus fehlen würden:

1) die Abwesenheit einer umfänglichen Mobilisierung, die zudem von einer Staatspartei oder einer aktiven Jugendorganisation gefordert werde,

2) ein Aufruf zur gesellschaftlichen „Regeneration“, verbunden mit der Idee, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu erschaffen sowie

3) eine gesellschaftliche Dynamik, die versucht, Faschismus von unten zu etablieren. 

Im Kern fehlt Laruelle das, was der Politologe Roger Griffin als konstitutives Merkmal und treibende Kraft eines jeden Faschismus herausgearbeitet hat: der Wille zur Erneuerung durch (militärische) Gewalt.3

Laruelle erkennt zwar an, dass Putin durchaus den Gedanken einer gesellschaftlichen Erneuerung und „Reinigung“ bei der Legitimierung des russischen Überfalls benutzt habe. Dies sei aber nur einmal in seiner Rede vom 16. März der Fall gewesen.4 Eine wichtige Säule von Laruelles Argumentation ist allerdings die Abwesenheit einer Massenmobilisierung, die sie beim Schreiben ihres Artikels noch für wenig wahrscheinlich hielt. Hier hat die Realität ihr Argument bereits eingeholt. Russland mobilisiert, und zwar nicht teilweise, sondern umfassender als von Verteidigungsminister Sergei Shoigu angekündigt. Statt der offiziell anvisierten 300.000 wurden seit dem 21. September 2022 etwa eine halbe Million Russen zum Kriegsdienst beordert.5

Neben den analytischen sieht Laruelle zudem politische Probleme bei der Verwendung des Fachismus-Begriffs. Während die Diagnose des Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren und damit auch die Frage des militärischen Handlungszwangs der Alliierten eindeutig war,6 lasse der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine „denselben Grad an moralischer Klarheit wie der Zweite Weltkrieg“ vermissen. Der Suche nach politischen Auswegen aus dem Krieg stünden maximalistische Argumente im Weg. Hierunter zählt für sie die These eines faschistischen Russlands. 

Vielleicht liegen Laruelle und Snyder in ihrem argumentativen Fernduell mittlerweile aber auch gar nicht mehr so weit auseinander. So bestätigt Laruelle durchaus, dass sich nach dem 24. Februar 2022 zahlreiche Aspekte russischer Politik verändert und radikalisiert haben, der Krieg selbst also potenziell eine transformative Wirkung auf das russische Regime ausübt. Der Krieg lässt den faschistischen Pfad für die russische Politik demnach zumindest als ein mögliches Szenario erscheinen. Welche Handlungszwänge – Laruelles policy implications – sich aus dieser Diagnose ergeben, ist jedoch weniger eine wissenschaftliche als eine politische und moralische Frage.

Fußnoten
6

Marlène Laruelle: Is Russia Fascist? Unraveling Propaganda East and West. Cornell University Press, Ithaca/London 2021, ISBN 9781501754135.

Timothy Snyder: We Should Say It. Russia Is Fascist. In: New York Times. 19. Mai 2022, abgerufen am 01. November 2022; Alexander Motyl: Yes, Putin and Russia Are Fascist. A Political Scientist Shows How They Meet the Textbook Definition. In: The Conversation. 30. März 2022, abgerufen am 01. November 2022. 

Roger Griffin: Fascism. Polity Press, Medford/Massachusetts 2018, ISBN 1509520686.

President of Russia: Meeting on socioeconomic support for regions. 16. März 2022, abgerufen am 01. November 2022.

Siehe für einen historischen Vergleich des Aufstiegs des Faschismus in der Weimarer Republik und der faschistischen Bewegungen im post-sowjetischen Russland Steffen Kailitz und Andreas Umland: Why fascists took over the Reichstag but have not captured the Kremlin. A comparison of Weimar Germany and post-Soviet Russia. In: Nationalities Papers. Band 45, Nr. 2, 2016, S. 206-221.

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(Dekoder-Gnose von Steffen Halling: https://www.dekoder.org/de/gnose/krim-annexion): Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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