Für Laruelle, eine der produktivsten Forscher*innen zum postsowjetischen Raum, stellt die Frage des russischen Faschismus kein Neuland dar. Bereits ein Jahr vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 veröffentlichte sie eine Monographie mit dem Titel Is Russia Fascist?, in der sie die inflationäre Verwendung des Begriffes kritisierte.
Auch nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 sieht Laruelle keinen Grund, von ihrer früheren Kritik abzurücken. In ihrer Intervention So, Is Russia Fascist Now? argumentiert sie, dass in Russland auch nach Kriegsbeginn drei wesentliche Elemente des Faschismus fehlen würden:
1) die Abwesenheit einer umfänglichen Mobilisierung, die zudem von einer Staatspartei oder einer aktiven Jugendorganisation gefordert werde,
2) ein Aufruf zur gesellschaftlichen „Regeneration“, verbunden mit der Idee, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu erschaffen sowie
3) eine gesellschaftliche Dynamik, die versucht, Faschismus von unten zu etablieren.
Im Kern fehlt Laruelle das, was der Politologe Roger Griffin als konstitutives Merkmal und treibende Kraft eines jeden Faschismus herausgearbeitet hat: der Wille zur Erneuerung durch (militärische) Gewalt.
Laruelle erkennt zwar an, dass Putin durchaus den Gedanken einer gesellschaftlichen Erneuerung und „Reinigung“ bei der Legitimierung des russischen Überfalls benutzt habe. Dies sei aber nur einmal in seiner Rede vom 16. März der Fall gewesen.
Neben den analytischen sieht Laruelle zudem politische Probleme bei der Verwendung des Fachismus-Begriffs. Während die Diagnose des Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren und damit auch die Frage des militärischen Handlungszwangs der Alliierten eindeutig war,
Vielleicht liegen Laruelle und Snyder in ihrem argumentativen Fernduell mittlerweile aber auch gar nicht mehr so weit auseinander. So bestätigt Laruelle durchaus, dass sich nach dem 24. Februar 2022 zahlreiche Aspekte russischer Politik verändert und radikalisiert haben, der Krieg selbst also potenziell eine transformative Wirkung auf das russische Regime ausübt. Der Krieg lässt den faschistischen Pfad für die russische Politik demnach zumindest als ein mögliches Szenario erscheinen. Welche Handlungszwänge – Laruelles policy implications – sich aus dieser Diagnose ergeben, ist jedoch weniger eine wissenschaftliche als eine politische und moralische Frage.