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Wie wäre es, gebildet zu sein?

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Wie wäre es, gebildet zu sein?

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Geschrieben von Christiane Wagner

Bei te.ma veröffentlicht 10.01.2023

Geschrieben von Christiane Wagner
Bei te.ma veröffentlicht 10.01.2023

Fast zehn Jahre ist es her, dass Peter Bieri seinen vielfach rezipierten und gerade im schulischen Kontext mit Schüler:innen intensiv diskutierten Essay „Wie wäre es gebildet zu sein?“ als Festrede an der Pädagogischen Hochschule Bern vorgetragen hat. Die Diskussionswürdigkeit des kleinen Textes hat seither an Aktualität nichts eingebüßt.

Die von Peter Bieri formulierten Thesen zum Bildungsbegriff stellen bis heute einen Forderungskatalog zusammen, den wohl so manche Lehrer:innen unverändert an die Bildungspolitik herantragen würden – vielleicht nicht mehr unter der ursprünglichen Überschrift, die bereits seinerzeit klug und auch provozierend gewählt war, sondern heute womöglich mit der Frage: „Welche Bildung würden wir vermitteln, wenn wir Raum, Zeit und Ausstattung dafür hätten?“

Peter Bieri hatte bis 2007 den Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Analytische Philosophie  an der Freien Universität Berlin inne. Er weiß, wovon er spricht aus eigener Lehre und Begegnung mit Studierenden auf ihrem Weg ins Gebildetsein. Er hat gelernt, die richtigen Fragen zu stellen – weil er, seiner eigenen Definition folgend, sich Bildung angeeignet hat.

Bieris Gedankengang beginnt mit der mittlerweile fast klassisch gewordenen Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung: „Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst.“ Damit eröffnet er die historisch wie aktuelle Kontroverse über das, was insbesondere von Schulbildung erwartet wird. Bis heute haben wir noch keinen Konsens darüber gefunden, ob wir das, was in den Schulgesetzen aller Länder verbrieft ist, ernstnehmen wollen: das Bildungsziel der mündigen Teilhabe an unserer demokratischen Gesellschaft – oder das geforderte funktionale Ziel der ökonomischen Verwertbarkeit erlernter Fertigkeiten und praktisch nutzbaren Wissensbestände: „Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden.“

Bieri dekliniert die für ihn entscheidenden Aspekte des Bildungsbegriffs durch, die in der Tradition der humanistischen Bildungsideale Humboldts stehen: Bildung als Weltorientierung, Aufklärung und historisches Bewusstsein als Artikuliertheit, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung als moralische Sensibilität und poetische Erfahrung – um schließlich zur abschließenden Vision einer leidenschaftlichen Bildung zu gelangen. Auch, wenn sich eine Funktionalisierung der Bildung durch ökonomische Ansprüche von Ausbildung nicht ganz verhindern ließen, nimmt er für seinen eigenen Bildungsbegriff nicht weniger als das universale Menschheitsziel ins Visier, den er in Gewinn von Selbstbestimmung und Freiheit sieht: „Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen.“ Übersetzt ins Jahr 2023 heißt das wohl nichts geringeres als die Aufrechterhaltung der Demokratiefähigkeit in unserer Gesellschaft. Bieri benennt das hohe Gut, das wir uns alle für uns selbst wünschen sollten: „gedankliche Unbestechlichkeit“. Wir sollten in der Lage zu skeptischer Distanz sein und keine Angst vor der Frage haben, was wir wissen können und wirklich verstehen.

Auch die Perspektive aus der Gegenrichtung scheut Bieri nicht, um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Was ist Unbildung? Die naive Anmaßung, die eigene Lebensform als die einzig anerkennenswerte zu halten. Sie führe, laut Bieri, ohne Umweg direkt in Imperialismus und Missionierung. Totalitäre Ideologien ersticken jedes Bewusstsein über die Relativität der eigenen Lebensform. Letztere wiederum in eigene Worte zu fassen, bedarf einer sensiblen Sprach-Bildung, die in der Lage ist, Texte und Literatur nicht nur zu konsumieren, sondern wahrzunehmen, nachzufühlen und in sich aufzunehmen. Nur dann könnten wir unser begriffliches Repertoire vergrößern und nicht nur nuancierter über unser Erleben reden, sondern sind überhaupt erst, so Bieri, in die Lage versetzt, dieses differenziert wahrzunehmen: „Der Gebildete ist einer, der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er einen stetigen Prozess erneuter Selbstbewertung zulässt, die damit verbundene Unsicherheit aushält.“ Bildung ist für Bieri immer auch „Herzensbildung“.

Bieri wagt in seinem Text zum Bildungsbegriff, was wohl nur jemand wagt, der gebildet ist: heftig reagieren auf alles, was Bildung verhindert, denn: „Es geht um alles.“

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