Immer wieder taucht in der Diskussion um Putins Motive, die Ukraine zu bedrohen und schließlich anzugreifen, der Begriff „Respekt“ auf. Der ehemalige deutsche Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach behauptete im Januar 2022, dass Putin in Wirklichkeit Respekt auf Augenhöhe einfordere – eine Aussage, für die er scharf kritisiert wurde. Einen Tag nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine meinte auch der Psychologe und Transaktionsanalytiker Christoph Seidenfus, Putin benötige Verständnis und Respekt, den er eingeklagt habe. Der Westen habe nicht verstanden, dass es hilfreich sei, ihm das zu geben, selbst wenn er es nicht verdiene. Der Politikwissenschaftler Alexander Motyl wiederum äußerte sich diesbezüglich sehr skeptisch. Seiner Meinung nach täte Putin gut daran, sich zu fragen, ob er und sein Land Respekt verdienten. Denn Respekt wird niemandem einfach so zuteil.
Mit Respekt als einem wichtigen und unterschätzten Faktor beschäftigt sich in seinem Artikel der Professor für Internationale Beziehungen, Reinhard Wolf. Sein Beitrag ist im sogenannten „
Wenn Akteure sozialen Respekt einfordern, streben sie, so Wolf, nach der angemessenen Beachtung ihrer physischen Präsenz, ihrer sozialen Bedeutung, ihrer Ideen und Werte, ihrer Interessen sowie ihrer Rechte. Wolf weist allerdings auch auf eine Reihe von analytischen Problemen
Laut Wolf lässt sich das Streben nach Respekt gut in Fällen beobachten, in denen politische Entscheidungen der jeweiligen Akteure für sie selbst absehbar mit materiellen Nachteilen verbunden sind. Zum Beispiel, wenn außenpolitische Entscheidungsträger/innen in einem Konflikt die internationale Aufmerksamkeit durch Gewaltakte bewusst auf ihren Staat lenken, obwohl eine unauffällige, zurückhaltende Politik mit geringeren Kosten und Risiken verbunden wäre. Oder, wenn Nationen einen aufwändigen (militärischen) Kampf führen, obwohl die absehbaren Kosten den erwarteten Nutzen deutlich übersteigen.
Weshalb etwa hat Palästina immer wieder den aussichtslosen Kampf gegen das ökonomisch wie militärisch weit überlegene Israel verschärft, anstatt einen Kompromissfrieden zu suchen, der die Kräfteverhältnisse angemessen berücksichtigt? Oder wieso hat das offensichtlich geschwächte Russland unter Boris Jelzin den Westen im
Der Autor kommt zum Schluss, dass die Einbeziehung des Respektstrebens in die wissenschaftliche Analyse neues Licht auf die Hindernisse und Erfolgsbedingungen internationaler Zusammenarbeit werfen. Dies gelte sowohl für Konfliktsituationen als auch für Verhandlungsprozesse. Darüber hinaus könnte eine wechselseitige Respektbezeugung Statuskonflikte entschärfen und gegenseitige Empathie fördern. Schließlich könnte die Einbeziehung des Faktors Respekt erklären helfen, weshalb rationale Kompromisslösungen in der Realität oft scheitern.
In der außenpolitischen und diplomatischen Praxis wären Entscheidungsträger/innen gut beraten, bei Konflikten die Respekterwartungen der Beteiligten einzubeziehen. Wolf betont, dass die westlichen Akteure aufgrund ihrer dominanten Stellung in der Weltpolitik oft unter einem Mangel an Sensibilität für die Eigenheiten und besonderen Bedürfnisse der anderen, nicht-westlichen Kulturen leiden. In einer globalisierten und vernetzten Welt könnte es sich jedoch als gravierender Fehler erweisen, den Wunsch nach Anerkennung anderer Kulturen und Akteure nicht ernst zu nehmen.