Wer will zur „russischen Welt“ gehören?

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Valentina Feklyunina2016
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Wer will zur „russischen Welt“ gehören?

»Soft power and identity: Russia, Ukraine and the ‘Russian world(s)’«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 30.11.2022

te.ma DOI 10.57964/hmq5-dw07

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 30.11.2022
te.ma DOI 10.57964/hmq5-dw07

Trotz der Zunahme russischer Public-Diplomacy-Aktivitäten in der Ukraine Ende der 2000er Jahre, konnten Moskaus Bemühungen die bilateralen Beziehungen nicht verbessern. Warum ist die russische Soft Power in der Ukraine gescheitert? Die Politikwissenschaftlerin Valentina Feklyunina sagt: Die Identitätsdiskurse beider Länder waren unvereinbar.

Viele Wissenschaftler/innen haben sich mit der russischen Soft Power beschäftigt.1 Einige sind dabei der Frage nachgegangen, warum Moskau das Ziel, Kiew wieder stärker an Russland zu binden, nicht erreichen konnte. Die britische Konfliktforscherin Victoria Hudson sieht das Scheitern darin begründet, dass die russische Soft Power nicht auf Attraktivität, sondern auf Zwang setzte.2 

Die Politikwissenschaftlerin Valentina Feklyunina schlägt eine sozialkonstruktivistische Sichtweise von Soft Power vor. Diese stützt sich auf die Annahme, dass Soft Power die größten Erfolgschancen zwischen Akteuren mit sich bringt, die kompatible Identitäten haben. In anderen Worten: „Wir mögen diejenigen, die uns ähnlich sind.“3 In ihrem Artikel verbindet Feklyunina das Konzept der Soft Power mit dem der kollektiven Identität. Am konkreten Beispiel der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine bis 2014 untersucht sie, inwieweit die kollektive Identität, die Russland auf die Ukraine projizierte, von der ukrainischen Elite und Öffentlichkeit akzeptiert wurde.  

In den späten 2000er und frühen 2010er Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen deutlich, und Moskau begann, eine dezidiertere Politik in seiner Nachbarschaft zu verfolgen. In diesem Zusammenhang kam es zur Entstehung mehrerer diskursiver Narrative, etwa über die zivilisatorische Besonderheit Russlands und seiner normativen Überlegenheit gegenüber dem im Niedergang begriffenen Westen. Im Vorfeld der Krise von 2013/2014 rund um die Ukraine spielte laut Feklyunina die Idee der „russischen Welt“ (Russkij Mir) eine besonders prominente Rolle. Diese Idee war wiederum nur teilweise mit einem der insgesamt drei Identitätsdiskurse in der Ukraine vereinbar.

Der Diskurs „Ukraine als Europa“ grenzte die Ukraine deutlich von Russland ab. Im Mittelpunkt standen die Verwendung der ukrainischen Sprache, die historischen Erzählungen über die Unterdrückung durch Russland und die natürliche Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa. Umgekehrt wurden im zweiten Narrativ „Ukraine als alternatives Europa“ die Identifikation mit Russland betont, die Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit gepflegt und die russische Sprache als Identitätsmerkmal hervorgehoben. Der dritte Diskurs „die Ukraine als Teil eines größeren Europas“ beschrieb die Ukraine als ein Land, das Russland kulturell nahesteht, sich jedoch erheblich von ihm unterscheidet. Dieser Diskurs akzeptierte Russisch zwar als Alltagssprache, betonte aber die Unabhängigkeit der Ukraine und stand der gemeinsamen Vergangenheit oder Zukunft mit Russland ambivalent gegenüber. 

Die Autorin kommt zum Schluss, dass die von Russland projizierte Identität der Russkij Mir nur von denjenigen Mitgliedern der ukrainischen politischen Elite und Öffentlichkeit akzeptiert wurde, die dem Narrativ „Ukraine als alternatives Europa” anhingen. Dazu gehörten vor allem ethnische Russen und Russinnen sowie russischsprachige Menschen im Südosten der Ukraine. Russlands Soft Power scheiterte jedoch fast völlig gegenüber der dritten wichtigen Zielgruppe – der Bevölkerung überwiegend im Westen des Landes – die den Diskurs „Ukraine als Europa“ vertrat.

Trotz ihrer scheinbar pro-russischen Position, stand die Partei der Regionen in Wirklichkeit, so Feklyunina, dem Diskurs „Ukraine als Teil eines größeren Europas“ näher. Während einige ihrer Mitglieder die Zugehörigkeit der Ukraine zur „russischen Welt“ akzeptierten, blieben andere, darunter der damalige Präsident Janukowitsch selbst, unentschlossen. Das Ausmaß der Proteste nach Janukowitschs Entscheidung, das Assoziierungsabkommen mit der EU im November 2013 nicht zu unterzeichnen, machte deutlich, dass Russlands Soft Power durch die konkurrierenden Identitätsdiskurse in der Ukraine ausgehebelt wurde.

Aus dem Text lässt sich schließen, dass Moskau die ukrainische Gesellschaft möglicherweise zu wenig verstanden und falsch eingeschätzt hatte, was zu einer Reihe falscher Annahmen und schließlich zur fatalen Entscheidung des Einmarsches am 24.02.2022 geführt hatte.

Fußnoten
3

Michael O. Slobodchikoff, G. Douglas Davis: Roots of Russian Soft Power. Rethinking Russian National Identity. In: Comparative Politics (Russia). Band 8, Nr. 2, 2017, S. 19-36; Andrey Makarychev: Beyond Geopolitics. Russian Soft Power, Conservatism, and Biopolitics. In: Russian Politics. Band 3, Nr. 1, 2018, S. 135-50; Marcel van Herpen: Putin’s Propaganda Machine. Soft Power and Russian Foreign Policy. Rowman & Littlefield, Lanham/Boulder/New York/London 2016, ISBN 978-1-4422-5360-5; Marlène Laruelle: Russia’s Niche Soft Power. Sources, Targets and Channels of Influence. In: Russie.Nei.Visions, Nr. 122, Ifri, April 2021. ISBN: 979-10-373-0338-7.

Victoria Hudson: ‘Forced to Friendship’? Russian (Mis-)Understandings of Soft Power and the Implications for Audience Attraction in Ukraine. In: Politics. Band 35, Nr. 3-4, S. 330-346.

Diese psychologische Hypothese greift der „Erfinder“ des Konzeptes Soft Power Joseph Nye in seinem Buch The Future of Power (2011, S. 81) auf.

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Dieses Narrativ war hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) an ethnische Russen und Russinnen sowie russischsprachige Menschen gerichtet. Erstens stellte man sich die „russische Welt“ als eine natürlich existierende zivilisatorische Gemeinschaft vor. Die zentralen Merkmale waren eher kultureller als ethnischer Natur: die russische Sprache, das orthodoxe Christentum und die russische Kultur im weiteren Sinne. Zweitens stützte sich die konstruierte Identität der „russischen Welt“ auf eine bestimmte Interpretation der „gemeinsamen“ Vergangenheit  – die Vorstellung von den gemeinsamen Ursprüngen der heute getrennten Staaten. Drittens konstruierte die Erzählung von der „russischen Welt“ eine hierarchische Beziehung zwischen Russland und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft.

Eine politische Partei in der Ukraine, deren Wählerpotenzial stets überwiegend im Osten und auch im Süden des Landes lag. Sie stellte zwischen dem 25. Februar 2010 und dem 22. Februar 2014 mit Wiktor Janukowytsch den Präsidenten der Ukraine.

Im Juli 2008 verweigerten die EU-Außenminister der Ukraine die EU-Beitrittsperspektive und boten ihr stattdessen ein Assoziierungsabkommen an. Ein Jahr später begann die letzte Gesprächsrunde zwischen der Ukraine und der EU zu politischen und wirtschaftlichen Fragen des Assoziierungsabkommens. 2012 wurde der Text des Abkommens in Brüssel abgezeichnet. Parallel dazu führte die Regierung von Wiktor Janukowytsch Gespräche mit Russland über den Beitritt zur von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion. Am 21. November 2013 lehnte Wiktor Janukowytschs  ab, das Assoziierungsabkommen mit der EU  zu unterzeichnen, was landesweite Proteste in der Ukraine auslöste und schließlich zu Janukowytschs Sturz führte.

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Ich betrachte diese Analyse zur russischen soft power mit Blick auf Identitäten als eher begrenzt gültig. Die Autorin führt selbst aus, das Konzept der “Russki Mir” war eher bei den Gegnern Russlands als seinen Befürwortern bekannt.
Ich glaube im Gegensatz zur Autorin, Russlands soft power war gescheitert, weil es für die Mehrzahl der Ukrainerinnen und Ukrainer keine attraktiven Elemente enthielt (kulturell, politisch, ökonomisch, praktisch rechtlich). Das war für die ehemaligen Bewohner der Sowjetunion vielleicht noch anders, aber umso mehr diese aus demografischen Gründen an Einfluss verloren, desto stärker stand Russland auf verlorenen Posten.

Letzendlich hat sich ja die dahinter vermutete imperiale Zielsetzung auch bestätigt. Ohne Aufarbeitung seiner imperialen Vergangenheit wird wohl Russland keine soft power in seiner näheren räumlichen Umgebung erlangen.

Total 1

Vielen Dank für Ihren Kommentar! Wie Sie richtig erkannt haben, hat Russlands Soft Power in seiner Nachbarschaft in der Tat wenig Attraktivität generieren können. Die nicht aufgearbeitet imperiale Vergangenheit ist dabei sicherlich ein Element, das nicht vor der Hand zu weisen ist. Zumal das Russkij Mir-Narrativ die kulturelle Einzigartigkeit Russlands in den Vordergrund stellte.

Deswegen, wie die Autorin auch schreibt, war Russlands Diskurs nur “von denjenigen Mitgliedern der ukrainischen politischen Elite und Öffentlichkeit akzeptiert wurde, die dem Narrativ „Ukraine als alternatives Europa” anhingen.

Ein anderes Manko war, dass Russlands Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell schlichtweg nicht besonders reizvoll war und ist.

Das größte Problem mit der russischen Soft Power war jedoch strategischer Natur. Sie priorisierte sofort sichtbare Ergebnisse statt langfristiger Wirkung. Es ging darum, mittels Veranstaltungen die eigene Kultur zu vermarkten und nicht darum, den Partnern Aufmerksamkeit zu schenken, sie zu respektieren und sich an ihren Bedürfnisse zu orientieren. Dazu empfehle ich diesen kritischen Text der russischen Soft Power-Expertin Natalia Burlinowa: https://te.ma/art/jkveph/softpower-ukraine-russland-beziehungen/

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