Viele Schüler*innen in Deutschland sind mehrsprachig aufgewachsen. Sie beherrschen neben dem Deutschen bereits eine weitere Sprache – oft auf hohem Niveau. Doch für sie gibt es keine Möglichkeit, sich diese Kenntnisse in ihrer schulischen Laufbahn anrechnen zu lassen. „Wenn es um den Nachweis von Sprachenkenntnissen für Schulabschlüsse geht, kommt es in Deutschland derzeit nicht auf die tatsächlichen Sprachenkenntnisse an“, schreibt Dita Vogel in ihrem Beitrag für das Format RfM-Debatte des Rats für Migration, „sondern auf den Besuch des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland.“
Für Schüler*innen, die zuhause eine weitere Sprache gelernt haben, die an Schulen jedoch nicht als Fremdsprache angeboten wird, gibt es in den meisten Bundesländern die Möglichkeit auf sogenannten herkunftssprachlichen Unterricht. Das Angebot ist jedoch äußerst heterogen. In Bayern und Baden-Württemberg obliegt die Gestaltung und Durchführung des Unterrichts sogar den Konsulaten anderer Staaten, in denen die jeweilige Sprache gesprochen wird. In jedem Fall handelt es sich beim herkunftssprachlichen Unterricht um einen freiwilligen Zusatzunterricht – er findet außerhalb der regulären Unterrichtszeit statt und kann nicht als abschlussrelevante Leistung angerechnet werden.
In der Forschung wird der gegenwärtige Ansatz vielfach kritisiert. Vogel zitiert aus einer Studie von Küppers und Schröder, in der es heißt:
„Überspitzt formuliert muss gerade aus Elternperspektive die Frage erlaubt sein: Warum die Kinder in einen Herkunftssprachenunterricht schicken, wo sie sich langweilen und wertvolle Zeit vergeuden, in der sie entweder für andere Fächer lernen oder etwas ‚Sinnvolleres‘ wie Sport machen könnten, wenn sie dort nicht einmal ein anerkanntes Zertifikat erwerben können und zu allem Überfluss in den Augen ihrer Mitschüler und Lehrkräfte auch noch zu ‚Türken‘ werden, obgleich sie sich doch oft als Deutsche fühlen?“
Auch die Bildungsgewerkschaft GEW fordert seit längerem, den herkunftssprachlichen Unterricht als gleichwertiges Unterrichtsfach anzuerkennen und die Ausbildung sowie das Angebot auszubauen.
Dita Vogel schließt sich der Kritik an und geht darüber hinaus. Für sie stellt sich nicht nur die Frage eines angemessenen Unterrichts in verschiedenen sogenannten „Herkunftssprachen“, sondern vor allem die Frage, warum der Sprachreichtum vieler Schüler*innen in Deutschland nicht als Kompetenz anerkannt wird – und ob es nicht diskriminierend ist, von diesen Schüler*innen den Erwerb einer zweiten Fremdsprache zu verlangen, obwohl sie schon längst eine beherrschen.
Beispielhaft beschreibt Vogel etwa den Fall eines Jugendlichen in der siebten Klasse eines Gymnasiums, der mit syrischem Arabisch aufgewachsen ist und seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Er müsste nun an den meisten Schulen mit Französisch oder Latein als zweiter Fremdsprache beginnen – er müsste also, das Deutsche eingerechnet, drei neue Sprachen lernen, während er gleichzeitig alle anderen Unterrichtsfächer auf Deutsch bewältigen muss. Eine Möglichkeit, seine Arabischkenntnisse als Prüfungsleistung anerkennen zu lassen, um sich auf andere Fächer zu konzentrieren, gibt es für ihn nicht.
Vogel entwickelt daher einen simplen Vorschlag, der für viele junge Menschen in Deutschland einen großen Unterschied machen könnte: Ausgehend von der Grundidee der Gleichstellung aller Sprachen für Schulabschlüsse sieht ihr Vorschlag vor, dass für den ersten Schulabschluss Kompetenzen in zwei Sprachen und für das Abitur in drei Sprachen ausreichen sollen – egal in welcher. Für den Abschluss sollen Schüler*innen in Deutschland einen Rechtsanspruch darauf haben, eine Sprachprüfung auf dem Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens ablegen zu können.
Ein solcher Prüfungsanspruch, schlägt Vogel vor, könnte etwa für alle Sprachen bestehen, für die es Unterrichtswerke, Grammatiken und Wörterbücher gibt. Es könnte dabei aber auch das Kriterium gewählt werden, dass für die entsprechende Sprache bereits von mindestens einer Stelle in Deutschland eine Sprachprüfung angeboten wird. In jedem Fall sollten die gewählten Kriterien transparent sein und eine Erweiterung des Sprachenspektrums erlauben. Auch schlägt Vogel vor, Zeugnisse aus dem Ausland als Sprachnachweise anzuerkennen.
Vogel geht es vor allem um die Abschaffung einer Praxis, die sie als diskriminierend beschreibt. Sie geht davon aus, dass eine derartige Reform weitere positive Effekte hervorbringen könnte. Es würde eine Hürde für Schulabschlüsse wegfallen, sodass vor allem zugewanderte Schüler*innen in der Folge seltener ohne Abschluss die Schule verlassen und häufiger auch das Abitur erreichen können. Die Möglichkeit zum Ausbau von familiär erworbenen Sprachkenntnissen könne Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Identitätsarbeit und ihrem Selbstwertgefühl stärken. Gesellschaftlich könne die gleichberechtigte Anerkennung von sogenannten Herkunftssprachen zu einer höheren Sichtbarkeit und Akzeptanz von Mehrsprachigkeit und damit verbundenen transnationalen Identitäten führen.
Dita Vogels Reformvorschlag wurde in der Debatte des Rats für Migration insgesamt positiv aufgenommen. Interessierte können die Diskussion in einer gesonderten Publikation nachverfolgen.