SPECIAL INPUT: Frank Schimmelfennig

„Der rein regulatorische Staat ist kein lebensfähiges Modell mehr für die EU.“ Ein Gespräch mit Frank Schimmelfennig

Russlands Krieg gegen die Ukraine zwingt die EU, geopolitischer zu werden. Warum das dennoch keine Zäsur bedeutet, wie EU-Integration auch ohne Krieg funktioniert und was aus einem langen Krisenjahrzehnt gelernt wurde, erklärt der Politikwissenschaftler Frank Schimmelfennig. Um ihr Ordnungsmodell nach innen und außen zu verteidigen, müsse die EU neue Kapazitäten schaffen.

Umbruch | Krieg | Europa

Die Fragen stellte Sebastian Hoppe aus der Fachkuration des Kanals „Umbruch | Krieg | Europa“.

Sebastian Hoppe: EU-Sanktionen gegen Russland, gemeinsame Munitionsbeschaffung für die Ukraine, Diskussionen um „strategische Autonomie“: Hat Russlands Angriff auf die Ukraine eine neue Phase der europäischen Integration ausgelöst?

Frank Schimmelfennig: Das denke ich schon. Allerdings auf eine andere Weise, als das oft diskutiert wird. Die Auffassung, dass es durch den Ukraine-Krieg zu einer enormen Stärkung der Kapazitäten der Europäischen Union kommen würde, sowohl fiskalisch, administrativ, aber auch militärisch – das sehe ich eher weniger. Hier bewegt sich die europäische Politik nach wie vor in vorgespurten Bahnen. Es werden vor allem bestehende Kapazitäten genutzt, umgenutzt und etwas aufgestockt, ohne dass hier in großem Stil neue Kapazitäten geschaffen werden. Die Reaktion bewegt sich auch insofern in gewohnten Bahnen, als die militärische Antwort vor allen Dingen über die Nato koordiniert wird und nicht über die EU.

Aber wenn man Integration breiter versteht, als Projekt der europäischen Gemeinschaftsbildung, und fragt: Wer gehört dazu und wer nicht? Wer ist Teil von Europa? – Dann hat der Krieg eine neue Phase ausgelöst. In den vergangenen 20 Jahren war es ja offen bzw. umstritten, ob die Ukraine und andere osteuropäische Staaten dazugehören und eine Beitrittsperspektive bekommen sollen. In dieser Frage hat sich die EU bedeckt gehalten und die Staaten in einer Grauzone belassen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat ein klares Verständnis dafür geschaffen, dass die Ukraine und andere Staaten die grundsätzlichen Werte und das Verständnis von europäischer Ordnung mit der EU teilen. Diese Länder haben nun eine klare Mitgliedschaftsperspektive. 

Auf der anderen Seite hat der Krieg aber auch eine Abgrenzungsdynamik zu geopolitischen Rivalen ausgelöst. In der Vergangenheit war das kein wichtiges Definitionsmerkmal der Integration, jetzt geht es natürlich vor allem um die Abgrenzung gegenüber Russland, aber weiter gefasst auch gegenüber China, das zunehmend als systemischer Rivale bezeichnet wird.  

SH: Hinter dem eingeleiteten Beitrittsprozess der Ukraine steht also keine Verlegenheitsentscheidung, die aus der Dynamik des Kriegs entstanden ist, sondern ein tatsächliches Commitment? Gehen Sie davon aus, dass es langfristig zum Beitritt der Ukraine kommen wird? 

FS: Sicherlich ist die Beitrittsperspektive zunächst ein symbolisches Bekenntnis. Sie folgte keiner längerfristigen Strategie, sondern war tatsächlich eine Reaktion auf den Krieg. Dennoch glaube ich, dass das Ganze eine Dynamik entwickelt hat, die das Verhältnis der EU zu den östlichen Nachbarn auf eine neue Grundlage stellt. Die bisherige Grauzone der östlichen Nachbarschaftspolitik, mit der man versucht hat, diese Staaten auf einem niedrigen Niveau in die eigene Integration einzubeziehen, aber sich im Grunde sehr viele Möglichkeiten offen hielt, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Diese Grauzone hat sich in Schwarz und Weiß aufgelöst. Russland, Belarus – das ist jetzt Schwarz. Da werden die Beziehungen weitgehend abgebrochen, da werden harte Grenzen errichtet. Auf der anderen Seite gibt es die Ukraine, Moldau, eventuell auch Georgien. Aber die Ukraine und Moldau werden mittlerweile klar als Teil der europäischen Gemeinschaft wahrgenommen, der auch eine Beitrittsperspektive verdient. 

Die bisherige Grauzone der östlichen Nachbarschaftspolitik hat sich als nicht tragfähig erwiesen.

Was diese Länder am Ende daraus machen können und wie tragfähig das ist, steht auf einem anderen Blatt. Da kann es durchaus zu Entwicklungen kommen, wie wir sie auf dem Balkan beobachten. Dort gab es zur Stabilisierung der Situation infolge der jugoslawischen Zerfallskriege ebenfalls die Beitrittsperspektive. Ob Staaten mit Beitrittsperspektive dann tatsächlich in der Lage sind, sich so zu transformieren, dass sie auch Mitglieder werden können, ist unklar.

SH: Sie haben die doppelte Dynamik aus Öffnung und Abgrenzung angesprochen, die der russische Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat. Gleichzeitig kritisieren Sie in Ihren jüngeren Veröffentlichungen einen „bellizistischen Blick“ auf die EU-Integration. Was genau verbirgt sich hinter dieser Perspektive? 

FS: Der Bellizismus, den ich kritisiere, kommt vor allem aus der Literatur zur europäischen Staatsbildung in der Frühen Neuzeit. Es gibt dieses sehr berühmte Diktum von Charles Tilly, „Staaten machen Krieg und Krieg macht Staaten“.1 Dahinter steht die Annahme, dass Staatsbildung – administrative Zentralisierung, Entwicklung eines Gewaltmonopols, zentralisierte Ressourcenextraktion durch Steuern – in erster Linie durch die Erfordernisse der Kriegführung in der europäischen Frühen Neuzeit vorangetrieben wurde. 

Diese Idee wird dann auf die EU übertragen, indem man sagt, die EU habe eben in dieser Beziehung Schwächen: kein Gewaltmonopol, keine militärischen Kapazitäten, keine eigene Steuerhoheit und eine schwache Verwaltung.2 Die „Defizite“ gegenüber dem Tilly’schen Staatsbildungsprozess werden dann dadurch erklärt, dass die EU keine kriegsgesteuerte politische Entwicklung genommen hat. In die Zukunft gerichtet wird daraus manchmal das Argument abgeleitet, dass sich dies jetzt ändern könnte, wo die EU tatsächlich durch einen Krieg an ihren Grenzen bedroht ist. Der Krieg könne eine Dynamik auslösen, in deren Zuge sich die EU mit militärischen Kapazitäten ausstattet und stärkere fiskalische Kapazitäten entwickelt. 

SH: Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat sich in der Krise sehr deutlich positioniert, die EU müsse „geopolitischer werden“. Hat der Krieg die institutionelle Balance zwischen Kommission, Parlament und Rat verschoben? 

FS: Das sehe ich nicht. Es ist natürlich so, dass in der EU alles, was mit Entscheidungsprozeduren in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu tun hat, sehr stark intergouvernemental ist, also zwischen den nationalen Regierungen abläuft. In vielen Fällen braucht man Einstimmigkeit.3 Man könnte nun zu der Auffassung kommen, dass die Kommission im Zuge des Kriegs ein größeres Gewicht bekommen hat. Tatsächlich schlägt sich das aber nicht in einer Reform der Entscheidungsprozeduren nieder. Vielmehr sehen wir eine Agenda-Setting-Macht, die die Kommission hat.4 Wobei man natürlich beachten muss, dass die Rolle der Kommission oft darin besteht, Aufträge der Regierungen umzusetzen und dabei zu helfen, Ideen, die sehr allgemein durch die Regierungen entwickelt werden, auszuarbeiten und dafür die passenden Finanzinstrumente zu entwickeln. Eine tatsächliche Verschiebung des Institutionengefüges sehe ich da absolut nicht. 

Eine Verschiebung des Institutionengefüges sehe ich absolut nicht.

Darüber hinaus gibt es eine intensive Diskussion, ob die EU-Kommission in letzter Zeit gestärkt oder geschwächt wurde. Allerdings erstreckt sich die Debatte auf das lange Jahrzehnt der Krisen, das die EU seit der globalen Finanzkrise durchlebt hat. Wie auch immer man sich in dieser Diskussion positioniert, muss man die Ukraine-Krise eigentlich als eine von vielen Krisen sehen, der sich die EU im vergangenen Jahrzehnt gegenübersah. Aus meiner Sicht hat der Krieg gegen die Ukraine keine herausragende Bedeutung für die Weiterentwicklung der EU. Andere Krisen, die die EU durchgemacht hat, scheinen mir von weit höherer Bedeutung.

Aus meiner Sicht hat der Krieg gegen die Ukraine keine herausragende Bedeutung für die Weiterentwicklung der EU. Andere Krisen, die die EU durchgemacht hat, scheinen mir von weit höherer Bedeutung.

SH: Der Krieg ist also keine Zäsur, sondern lediglich das nächste Kapitel einer Krisengeschichte?

FS: Ja, einer Geschichte, die mit der globalen Finanzkrise 2007-2009 begann, die dann in der EU zu einer Eurokrise wurde, bis zur Migrationskrise 2015, dem Brexit 2016 und Covid 2020. Aus meiner Sicht ist die Ukraine-Krise eine weitere Krise in dieser Kette, zu der sich die EU immer wieder verhalten muss.5 Aber der Krieg an sich ist für die EU keineswegs die wichtigste Krise. Für mich ist das auch ein Argument gegen den Bellizismus, der sagt, dass wir jetzt eine Krise haben, die tatsächlich die EU verändern wird, weil sie eine militärische Herausforderung ist. Dem würde ich stark widersprechen.

SH: In Abgrenzung zur klassischen Staatsbildungsliteratur verwenden Sie den Begriff der transboundary crisis, einer grenzüberschreitenden Krise. 

FS: Die bellizistische Analyse ist zu eng geführt, denn militärische Krisen gehören zu einer größeren Klasse von Phänomenen, nämlich zu ebenjenen grenzüberschreitenden Krisen. In einem Aufsatz argumentieren Christian Freudlsperger und ich, dass grenzüberschreitende Krisen, denkt man sie breiter, in der Tat einen Entwicklungsschub in der EU ausgelöst haben, aber dass es eben nicht die im engeren Sinne militärische Krise rund um die Ukraine war.6 Dieser Punkt richtet sich zum einen gegen den Bellizismus, auf der anderen Seite aber auch gegen den Mainstream der Integrationstheorie, die die Integrationsdynamik in den 1980er und 90er Jahren vor allem aus internen Motiven heraus gedacht hat.7 Man war überzeugt, dass es vor allem Veränderungen in den wirtschaftspolitischen Auffassungen oder Regierungspräferenzen sind, die dazu geführt haben, dass es neue Politikentwicklungen gab. 

In der jüngsten Zeit kamen die wichtigsten Impulse für die EU allerdings durch Anstöße von außen, also durch externe Krisen. Die russische Invasion ist eine weitere externe, grenzüberschreitende Krise. Die EU wird herausgefordert und antwortet, indem sie Kapazitäten schafft, um mit diesen bisher unterschätzten und vernachlässigten externen Herausforderungen und Gefahren umgehen zu können. 

SH: Ein anderes von Ihnen benanntes Konzept ist der boundary shock, ein Art Infragestellung von Grenzen. Nun hat Russland streng genommen ja keine EU-Grenze angegriffen. Inwiefern lässt sich die Krise also als Grenzkrise denken?

FS: Einerseits muss man die EU als eine größere Ordnung denken, die über die externen Grenzen ihrer formellen Mitgliedstaaten hinausgeht. Viele EU-Projekte umfassen Nicht-Mitglieder, beispielsweise der Binnenmarkt und das Schengen-Abkommen. Die Ukraine und andere assoziierte Staaten sind eben auch Teil dieses erweiterten Integrationsregimes. Durch Assoziierungsverträge und Freihandelsabkommen werden sie Teil einer erweiterten europäischen Ordnung.

Der russische Angriff war kein direkter Angriff auf eine EU-Außengrenze, aber auf die Außengrenze dieser erweiterten europäischen Ordnung. Dann darf man natürlich nicht vergessen, dass innerhalb der EU die Befürchtung bestand und besteht, dass Russland bei einem Erfolg in der Ukraine nicht Halt machen würde. Es gibt Mitgliedstaaten, die früher Teil der Sowjetunion waren. Die baltischen Staaten könnten durchaus auch zum Opfer eines russischen Revisionismus werden. Aus dieser Erkenntnis heraus unterstützt man die Ukraine und schützt damit seine Mitglieder und letztendlich auch das Narrativ, dass in der Ukraine europäische Werte und die europäische Ordnung verteidigt werden, die nach dem Ende des Kalten Kriegs entstanden waren.

Der russische Angriff war kein direkter Angriff auf eine EU-Außengrenze, aber auf die Außengrenze der erweiterten europäischen Ordnung.

SH: Gibt es bestimmte institutionelle, politische oder wirtschaftliche Eigenschaften, die der EU bei der Reaktion auf Russlands Invasion der Ukraine geholfen haben? 

FS: Auf der einen Seite sieht man, dass die EU sich im langen Krisenjahrzehnt eine gewisse Krisenreaktionsfähigkeit erworben hat. Wenn man sich anschaut, wie mühsam es am Anfang der Eurokrise war, gemeinsame Antworten zu entwickeln und Mechanismen zu schaffen, um mit der Krise umzugehen, und wie schnell inzwischen diese Koordinationsfähigkeit ist, da hat sich schon viel entwickelt. In der Tendenz ist die EU über die Zeit deutlich krisenfester geworden. 

Der andere Punkt ist, dass sie ihre spezifischen Instrumente nutzen kann. Die EU hat eine regulatorische Kapazität, das heißt, sie hat einen Apparat, der Regeln setzt und etwa für die Mitgliedstaaten den Marktzugang regulieren kann.8 Das sind zum Teil exklusive Kompetenzen der EU, die es ihr erlauben, Regeln zu erlassen, die sich etwa auf wirtschaftliche Sanktionen beziehen und den russischen Marktzugang blockieren. Auf der anderen Seite hat sie Instrumente, um den Markt für die Ukraine zu öffnen. In der Vergangenheit hat die EU so bereits gewisse Töpfe jenseits des normalen Haushalts geschaffen, wie etwa die Europäische Friedensfazilität. Diese ließ sich zugunsten des Ukrainekriegs umwidmen, ohne dass man erst mühsam neue Beschlüsse hätte fassen und neue Mittel hätte requirieren müssen. Da war einfach Geld da, das flexibel einsetzbar war. 

Auf der anderen Seite, wenn es um die Sanktionen und um die Außen- und Sicherheitspolitik geht, gilt in den meisten Fällen die Einstimmigkeit unter den Staaten. Das führt dazu, dass Einzelinteressen durch ein Veto zur Geltung gebracht werden können, was einige Reaktionen verzögert und aufweicht. Ich glaube, dass diese Einstimmigkeit, was die Sanktionspolitik angeht, eine gewisse Fessel ist, die die EU noch um ihre Füße hat.

Was die Sanktionspolitik angeht, ist die Einstimmigkeit eine gewisse Fessel, die die EU noch um ihre Füße hat.

SH: Sie betonen sehr stark die regulatorische Kapazität der EU. Im Zuge des Kriegs sind erneut Rufe nach einer „strategischen Autonomie“ der EU in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht laut geworden. Würde deren Umsetzung nicht eine interventionistischere EU voraussetzen, die über das Regulatorische hinausgeht? 

FS: Es gibt eine Reihe von Instrumenten des regulatorischen Staates, die auch zugunsten von strategischer Autonomie eingesetzt werden können. Regulatorischer Staat heißt ja zunächst Politik mithilfe von Geboten und Verboten und nicht durch die Verteilung von Geldern oder durch Zwang. Damit kann man auch strategische Autonomie aufbauen, indem man zum Beispiel den Marktzugang externer Akteure beschränkt, ausländische Investitionen in strategisch sensible Bereiche unterbindet oder den Export strategisch wichtiger Güter verbietet. Man kann auch durch Protektionismus gewisse europäische Industrien vor ausländischer Konkurrenz schützen, um hier die Autonomie zu stärken. Das macht die EU vor allem im Agrarsektor. Der neue Grenzausgleichsmechanismus verteuert aber auch andere Importe, die nicht der gleichen CO2-Steuer wie in der EU unterliegen. Zudem diversifiziert die EU durch weltweite Handelsabkommen Exporte und Importe, um nicht von einzelnen Lieferanten abhängig zu sein. 

In der Vergangenheit hat die EU regulatorische Instrumente vorrangig dazu eingesetzt, um Märkte zu öffnen, ökonomische Grenzen zu öffnen, einzureißen oder durchlässig zu machen. Genauso gut kann man diese regulatorischen Instrumente auch für das Gegenteil nutzen – etwa zugunsten von europäischer Industriepolitik. Bei dieser Frage sieht man schon einen deutlichen Paradigmenwandel: von der EU als Motor der Globalisierung zur EU als Motor des Schutzes europäischer Autonomie. 

Man sieht einen deutlichen Paradigmenwandel: von der EU als Motor der Globalisierung zur EU als Motor des Schutzes europäischer Autonomie.

Ich stimme Ihnen völlig zu, dass diese Instrumente nicht ausreichen für ein umfassendes Konzept strategischer Autonomie. Um strategische Autonomie auf den militärischen Bereich auszuweiten, braucht die EU auch fiskalische Mittel, um die eigene Rüstungsproduktion zu fördern. Im militärischen Bereich, muss ich ehrlich sagen, sehe ich auch nicht, dass die strategische Autonomie momentan eine realistische Perspektive ist. Hier hat der Ukraine-Krieg eher noch mal die Arbeitsteilung zwischen EU und Nato verstärkt. Die durchaus massiven Investitionen, die angekündigt wurden, finden auf nationaler Ebene statt und werden durch die Nato koordiniert. Gerade aus der Sicht vieler osteuropäischer Mitgliedstaaten hat die Ukraine-Krise deutlich gemacht, dass ihre Autonomie weitgehend von der Nato und von der Unterstützung der USA abhängt.

Im militärischen Bereich, muss ich ehrlich sagen, sehe ich nicht, dass die strategische Autonomie momentan eine realistische Perspektive ist.

SH: Insbesondere Emmanuel Macron hat jüngst vorgeschlagen, die Idee der strategischen Autonomie wiederzubeleben. Sind solche Rufe aus den Mitgliedsstaaten ein immer wiederkehrender Krisenreflex der EU? 

FS: Strategische Autonomie ist eine langjährige französische Vorstellung für die Entwicklung der EU. Seit de Gaulle war die Idee, dass man die europäische Integration dazu verwendet, um Europa zu einem eigenständigen Spieler in der Weltpolitik und sich von den USA unabhängiger zu machen. Das ist eine Konstante französischer Europapolitik. Inwieweit das Resonanz bei den anderen Partnern findet, hängt sehr stark von den geopolitischen Umständen ab. Aus französischer Sicht handelt es sich tatsächlich um ein strategisches Konzept, das auch unabhängig von den jeweiligen Präsidenten verfolgt wird. 

Ich glaube schon, dass das Konzept an Durchschlagskraft gewonnen hat und hilfreich ist, wenn sich die EU geopolitischen Rivalen gegenübersieht. Es ist auch hilfreich, wenn sich in der EU die Auffassung durchsetzt, dass man sich auf das transatlantische Verhältnis nicht unbedingt verlassen kann. Man sieht mittlerweile, wie die strategische Autonomie in EU-Dokumente wandert und zum Bestandteil der europäischen Doktrin wird, teilweise auch mit seltsamen Kompromissen. In der Handelspolitik spricht man jetzt von „offener strategischer Autonomie“. Das ist so eine typische europäische Wortbildung, in der jeder etwas finden kann. Aber ich sehe durchaus eine Richtung, wenn ich mir die aktuellen Instrumente, die Politikentwicklung und auch die Gesetze anschaue. Ob das jetzt eine Folge des französischen Werbens für dieses Konzept ist oder ob es eher durch äußere Faktoren verstärkt wird, ist eine müßige Debatte. Ich glaube, beides gehört dazu. 

Strategische Autonomie kann nur dann an Fahrt gewinnen, wenn die Europäer davon überzeugt sind, dass die EU in der Tat etwas tun muss, um die eigene Autonomie zu stärken. Da spielt der Ukraine-Krieg eine Rolle, aber auch die chinesische Politik und das transatlantische Verhältnis. Angenommen, es gäbe einen neuen republikanischen Präsidenten mit stärker isolationistischen Tendenzen oder einer asiatischen Orientierung, dann wären die Europäer dazu gezwungen, mehr in ihre strategische Autonomie zu investieren.

SH: Bedeuten diese geopolitischen Herausforderungen für die EU, dass man sich noch stärker als bisher der östlichen Nachbarschaft widmen muss? 

FS: Wir sehen einen Wandel über ganz verschiedene Politikbereiche hinweg: Europäische Entwicklung wird zunehmend durch geopolitische Rivalität gesteuert. In den 1990er und frühen 2000er Jahren war die EU sehr stark geprägt durch die neue Öffnung im Zuge der Globalisierung und des Endes des Ost-West-Konflikts. Jetzt beobachten wir eine Schließungstendenz. Die Globalisierung ist in der Krise, mit Russland und China verstärkt sich die geopolitische Rivalität, wovon die EU zunehmend inspiriert wird.

Europäische Entwicklung wird zunehmend durch geopolitische Rivalität gesteuert.

Das zeigt sich auch bei der EU-Erweiterungspolitik. In den 1990er Jahren hatte diese eine sehr starke Transformationsperspektive. Es ging darum, einst kommunistische Staaten zu modernisieren, zu europäisieren und in die westliche Ordnung einzubetten. Das war ein gradueller Prozess, bei dem Erweiterungsentscheidungen sehr stark von der Transformationsfähigkeit und -bereitschaft dieser Staaten abhingen. Mittlerweile sieht man, dass das doch stark umgekehrt wird. Jetzt steht im Vordergrund, durch die Erweiterungsperspektive diese Staaten in einer geopolitischen Auseinandersetzung zu schützen und in „unserem Lager“ zu halten. Die Transformationsprozesse kommen erst als zweiter Schritt. 

SH: Besteht hier auch ein Konflikt zwischen neuer geopolitischer Rationalität und dem bisher sakrosankten Prinzip der Konditionalität?

FS: Den gibt es auf jeden Fall. Wobei ich nicht denke, dass sich die Konditionalität erledigt hat. Aber es gibt eine andere Prioritätensetzung. Früher waren zum Beispiel der Kandidatenstatus und die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen sehr stark an die Konditionalität geknüpft. Die EU hat versucht, vor entsprechenden Zusagen schon möglichst viel an Transformation zu erreichen. Jetzt sieht man, dass der Kandidatenstatus und vielleicht sogar die Perspektive auf Beitrittsverhandlungen vorgelagert werden. Die Konditionalität folgt später und, so die Hoffnung, kann während der Beitrittsverhandlungen wirken. Wobei vor einem Beitritt nach wie vor eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt werden müssen. Das wird die EU nicht aufgeben, denn sie ist als Rechtsgemeinschaft sowohl von funktionierender Rechtsstaatlichkeit als auch von der Einhaltung gemeinsamer Regeln durch die Mitglieder abhängig. 

SH: Geopolitischer Reformdruck, neue Beitrittskandidaten und jede Menge interne Herausforderungen: Hat der regulatorische Staat der EU nach dem langen Krisenjahrzehnt die Mittel und Energie, um all das zu bewältigen?

FS: Aus meiner Sicht sehen die Mitgliedstaaten, dass die Kapazitäten der EU als Antwort auf die vielen Krisen gestärkt werden müssen. Das war ein wichtiger Lernprozess, vor allem in der Eurokrise. Man kann durchaus sagen, dass die EU aus diesen Krisen gestärkt hervorgegangen ist, was ihre Kapazitäten und die Einigkeit der Mitglieder untereinander angeht. Der rein regulatorische Staat wird nicht mehr als ein lebensfähiges Modell für die EU angesehen. Man hat gemerkt, wenn man nur Regulierungskompetenzen auf die europäische Ebene verlagert ohne gleichzeitig auch Kapazitäten zu schaffen, um diese Regulierungen abzusichern, zu verteidigen, krisenfest zu machen, dann lässt sich auch dieser regulatorische Minimalstaat nicht halten. Und man hat festgestellt, dass in vielen dieser Krisen nationale Krisenreaktionen nicht ausreichen, denn ein großer Teil der Mitgliedstaaten ist von den Krisen überfordert. 

Der Lerneffekt hat sich während der Covid-Pandemie wiederholt, indem man gemeinsame Beschaffungen zum Beispiel von medizinischen Produkten vorangetrieben hat, vor allem aber einen Wiederaufbaufonds schuf, auf dessen Basis man jetzt gemeinsame Schulden aufnimmt, die an besonders bedürftige Staaten verteilt werden. Dabei geht es nicht um die Gründung des europäischen Superstaats, sondern die gezielte Schaffung europäischer Kapazitäten, um die Mitgliedstaaten in ihrer Krisenbewältigung zu unterstützen.

SH: Bereits vor dem Krieg wurde viel von einem Systemwettbewerb zwischen den USA, der EU und China gesprochen. Welche Rolle sehen Sie in dieser Auseinandersetzung für die EU? 

FS: In diesem Systemwettbewerb sehe ich die EU nicht als einen zentralen Konkurrenten, weder gegenüber China noch den USA. Dazu fehlen sowohl die Kapazitäten als auch die Strategiefähigkeit. Die EU sollte sich auf sich selbst konzentrieren, sich schützen und absichern und in ihrer Nachbarschaft den Einfluss der „Systemrivalen“ eindämmen und abwehren – in erster Linie auf dem Balkan und in Osteuropa. Ich denke, die EU hat hier ganz gute Karten.

Im Systemwettbewerb sehe ich die EU nicht als einen zentralen Konkurrenten, weder gegenüber China noch den USA.

Sie ist aber kein ernsthafter Wettbewerber, wenn es darum geht, in Asien oder in Afrika China Paroli zu bieten oder auf Augenhöhe mit den USA zu agieren. Dazu fehlen die militärischen Fähigkeiten. Es fehlt aber mittlerweile auch die wirtschaftliche Kapazität. Der Anteil der EU an der Weltwirtschaft nimmt ab. Die EU tut gut daran, die Ressourcen dazu zu verwenden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Auch wenn es einzelne globale Programme gibt, etwa die Global Gateway-Strategie als Antwort auf Chinas Neue Seidenstraße: Für die Weltpolitik fehlen der EU einfach die Mittel. Sie hat aber die Kapazität, die Unterminierung des eigenen Ordnungsmodells in Europa zu verhindern.

Dafür muss sie sich aber nicht nur externen, sondern auch internen Herausforderungen stellen. Bei der Lösung der Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitskrise etwa hat die EU noch viel Nachholbedarf. Es gibt hier Schwierigkeiten, eine effektive Politik zu definieren. Es gelingt bisher nicht, Länder wie Polen oder Ungarn von ihrem autoritären Pfad abzubringen. Man versucht, diese Staaten innerhalb der EU zu isolieren, indem man sie von gewissen Finanztöpfen abklemmt. Ich bin skeptisch, ob demokratische Gegenkräfte in den Ländern stark genug sind und die Maßnahmen der EU ausreichen, um tatsächlich einen neuen Systemwandel herbeizuführen. 

Wenn es der EU darum geht, ihr eigenes Ordnungsmodell aufrechtzuerhalten, dann ist diese interne Dimension entscheidend. Die EU muss sich weiter demokratisieren und lernen, demokratische Rückschritte ihrer Mitgliedstaaten zu verhindern.

Fußnoten
8

Charles Tilly: War Making and State Making as Organized Crime. In: Peter B. Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hrsg.). Bringing the State Back In. Cambridge University Press, Cambridge 1985, ISBN0521313139, S. 169–191.

R. Daniel Kelemen und Kathleen R. McNamara: State-building and the European Union. Markets, War, and Europe's Uneven Political Development. In: Comparative Political Studies. Band 55, Nr. 6 2022, S. 963–991.

Das neo-funktionalistische Gegenargument zu dieser Position findet sich bei Pierre Haroche: Supranationalism strikes back. A neofunctionalist account of the European Defence Fund. In: Journal of European Public Policy. Band 27, Nr. 6 2020, S. 853–872. https://doi.org/10.1080/13501763.2019.1609570 

Neill Nugent und Mark Rhinard: The ‚political‘ roles of the European Commission. In: Journal of European Integration. Band 41, Nr. 2 2019, S. 203–220. https://doi.org/10.1080/07036337.2019.1572135 

Mark Rhinard: The Crisisification of Policy‐making in the European Union. In: JCMS: Journal of Common Market Studies. Band 57, Nr. 3 2019, S. 616–633. https://doi.org/10.1111/jcms.12838 

Christian Freudlsperger und Frank Schimmelfennig: Transboundary crises and political development. Why war is not necessary for European state-building. In: Journal of European Public Policy. Band 29, Nr. 12 2022, S. 1871–1884. https://doi.org/10.1080/13501763.2022.2141822 

Andrew Moravcsik: The Choice For Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht. UCL Press, London 1998, ISBN 1-85728-191-8.

Giandomenico Majone: The rise of the regulatory state in Europe. In: West European Politics. Band 17, Nr. 3 1994, S. 77–101. https://doi.org/10.1080/01402389408425031 

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