Sei es die Weltfinanzkrise, der Brexit, die Wahl von Donald Trump oder der russische Angriff auf die Ukraine, deutsche Politiker*innen reagieren meist mit der Feststellung, dass derlei Ereignisse völlig unerwartet kamen und man sich fortan in einer neuen Normalität befinde. Dabei sei die deutsche Wahrnehmung von Stabilität und Normalität in den vergangenen Jahren eine Ausnahme gewesen, die sich erheblich von der Situation in anderen europäischen Ländern oder den USA unterschieden habe, argumentiert Krastev. Die politischen Konsequenzen dieser deutschen Fehlwahrnehmung waren weitreichend: Die militärische Sicherheit Deutschlands sei komplett an die USA outgesourct worden. Zudem habe man sich entschieden, große Teile der Wirtschaft von billigem russischem Gas abhängig zu machen. Und nicht zuletzt wurde das deutsche Exportmodell bewusst auf den chinesischen Markt ausgerichtet. Da mittlerweile all diese drei Säulen bröckeln, sei die deutsche Überraschung über das Ende der “abnormalen Normalität” komplett.
Krastev kritisiert, dass die Reaktion auf die Erschütterung der eigenen Normalität – in Deutschland wie in anderen westlichen Staaten – ein Rückgriff auf die Figur eines globalen Konflikts zwischen Demokratie und Autokratie sei. Die globale Realität drehe sich jedoch weniger um politische Systeme, als um Identitäten und (De-)Kolonialisierungserfahrungen. Dies sei auch der Grund, weshalb zahlreiche nicht-europäische Staaten einen anderen Maßstab an Russlands Krieg gegen die Ukraine anlegen würden.