Für Enttäuschung, Irritationen und Ernüchterung bei Deutschland und seinen Verbündeten sorgte Ende Januar die Position des neu gewählten brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva zum Ukraine-Krieg. Dies bezieht sich insbesondere auf Lulas Andeutung, dass die Ukraine für den Krieg mitverantwortlich sei, denn „wenn einer nicht will, streiten zwei nicht“. Mit Blick auf den deutschen Wunsch nach Munition für die Gepard-Panzer sagte Lula, Brasilien werde sich weder direkt noch indirekt an dem Krieg beteiligen. Gerechnet hatte man offensichtlich nicht damit, dass Lula eher relativierend die Schuld auf beiden Seiten verorten würde, anstatt Russlands Aggression klar zu verurteilen. Dabei wäre es keine große Überraschung gewesen, hätte man die wachsende Dynamik in den Beziehungen zwischen Russland und den lateinamerikanischen Staaten der vergangenen 20 Jahre
Insgesamt haben die lateinamerikanischen Staaten die russische Aggression in den UN-Abstimmungen im März und Oktober 2022 sowie erneut am 23. Februar 2023 zwar mehrheitlich verurteilt, sich den westlichen Sanktionen jedoch nicht angeschlossen. Der kolumbianische Politikwissenschaftler Víctor Mijares sieht die Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 7. April 2022, als beschlossen wurde, Russland vom UN-Menschenrechtsrat auszuschließen, als Indikator für die offiziellen Haltungen und unterschiedlichen Positionen
Die Heterogenität speist sich laut Mijares aus der innenpolitischen Verfassung lateinamerikanischer Länder, ihrer Nähe zu Russland sowie ihren außenpolitischen Traditionen. Anhand der Ergebnisse der Abstimmung am 7. April nimmt der Autor folgende Ländergruppierungen vor:
In der Gruppe der Russland-Unterstützer verortet Mijares Nicaragua, Kuba, Venezuela
Länder wie Chile, Costa Rica und Uruguay, die die russische Invasion offiziell verurteilt haben, zeichnen sich laut Mijares durch ein hohes Maß an Demokratie und individuellen Freiheiten aus. Sie haben auch bessere Beziehungen zum Westen, insbesondere zu den USA, wie das bei Kolumbien
Die dritte Gruppe ist die der Länder, die sich in der UN der Stimme enthalten haben. Das sind zum einen kleine Staaten
Dagegen lasse sich das Verhalten Brasiliens und Mexikos einfacher erklären. Bei Brasilien spiele, so Mijares, ein außenpolitisches Autonomiestreben
Die von Mijares präsentierte Ländergruppierung und kausale Einordnung ist nicht an allen Stellen konsistent. Es fehlt beispielsweise eine Analyse zur inkonsistenten Position Argentiniens.
Der Beitrag gibt einen guten Überblick über die lateinamerikanischen Reaktionen auf den russischen Einmarsch in der Ukraine und zeigt, dass diese nicht nur nicht homogen, sondern teilweise inkohärent mit ihren eigenen proklamierten außenpolitischen Prinzipien sind.