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Russlands Krieg aus der Sicht Lateinamerikas

Re-Paper
Víctor Mijares2022
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Russlands Krieg aus der Sicht Lateinamerikas

»The War in Ukraine and Latin America: Reluctant Support«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 14.03.2023

te.ma DOI 10.57964/vssf-qq42

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 14.03.2023
te.ma DOI 10.57964/vssf-qq42

Kein lateinamerikanischer Staat hat sich den westlichen Sanktionen gegen Russland wegen seines Überfalls auf die Ukraine angeschlossen. Innerhalb der Region waren die offiziellen Reaktionen jedoch alles andere als homogen, so die Analyse des kolumbianischen Politikwissenschaftlers Víctor Mijares. Bedingt wurde diese Vielstimmigkeit durch innenpolitische Faktoren, politische Nähe zu Russland sowie außenpolitische Traditionen lateinamerikanischer Länder.

Für Enttäuschung, Irritationen und Ernüchterung bei Deutschland und seinen Verbündeten sorgte Ende Januar die Position des neu gewählten brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva zum Ukraine-Krieg. Dies bezieht sich insbesondere auf Lulas Andeutung, dass die Ukraine für den Krieg mitverantwortlich sei, denn „wenn einer nicht will, streiten zwei nicht“. Mit Blick auf den deutschen Wunsch nach Munition für die Gepard-Panzer sagte Lula, Brasilien werde sich weder direkt noch indirekt an dem Krieg beteiligen. Gerechnet hatte man offensichtlich nicht damit, dass Lula eher relativierend die Schuld auf beiden Seiten verorten würde, anstatt Russlands Aggression klar zu verurteilen. Dabei wäre es keine große Überraschung gewesen, hätte man die wachsende Dynamik in den Beziehungen zwischen Russland und den lateinamerikanischen Staaten der vergangenen 20 Jahre1 oder auch nur die deutlichen Äußerungen Lulas im April 20222 aufmerksam verfolgt und berücksichtigt. 

Insgesamt haben die lateinamerikanischen Staaten die russische Aggression in den UN-Abstimmungen im März und Oktober 2022 sowie erneut am 23. Februar 2023 zwar mehrheitlich verurteilt, sich den westlichen Sanktionen jedoch nicht angeschlossen. Der kolumbianische Politikwissenschaftler Víctor Mijares sieht die Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 7. April 2022, als beschlossen wurde, Russland vom UN-Menschenrechtsrat auszuschließen, als Indikator für die offiziellen Haltungen und unterschiedlichen Positionen3 der Länder zum Krieg in der Ukraine.

Die Heterogenität speist sich laut Mijares aus der innenpolitischen Verfassung lateinamerikanischer Länder, ihrer Nähe zu Russland sowie ihren außenpolitischen Traditionen. Anhand der Ergebnisse der Abstimmung am 7. April nimmt der Autor folgende Ländergruppierungen vor: 

In der Gruppe der Russland-Unterstützer verortet Mijares Nicaragua, Kuba, Venezuela4 und – in geringerer Ausprägung – Bolivien5. Länder mit autoritären Regimen, zu denen Moskau die besten Beziehungen aufgebaut habe und die am stärksten westliche Institutionen, Praktiken und Politiken kritisieren. 

Länder wie Chile, Costa Rica und Uruguay, die die russische Invasion offiziell verurteilt haben, zeichnen sich laut Mijares durch ein hohes Maß an Demokratie und individuellen Freiheiten aus. Sie haben auch bessere Beziehungen zum Westen, insbesondere zu den USA, wie das bei Kolumbien6, dem einzigen globalen Nato-Partner in der Region, der Fall ist. 

Die dritte Gruppe ist die der Länder, die sich in der UN der Stimme enthalten haben. Das sind zum einen kleine Staaten7 und zum anderen die regionalen Mächte Brasilien und Mexiko. Hier merkt der Autor an, dass sich die Faktoren, die die Positionen dieser Länder bedingen, nicht immer eindeutig ermitteln lassen. So sei nicht genau feststellbar, ob die neutrale Haltung des salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele auf El Salvadors Autonomiebestreben, Empathie mit der russischen autoritären Regierung oder schlicht auf Desinteresse am Weltgeschehen zurückzuführen sei.

Dagegen lasse sich das Verhalten Brasiliens und Mexikos einfacher erklären. Bei Brasilien spiele, so Mijares, ein außenpolitisches Autonomiestreben8 eine wesentliche Rolle, während Mexiko seit seiner „Estrada-Doktrin“ ein Verfechter der Nichteinmischung gewesen sei. Die Regierungen beider Staaten würden den Krieg in der Ukraine außerdem als eine europäische oder allenfalls nordatlantische Angelegenheit betrachten. Zurecht weist der Autor auf den paradoxen Umstand hin, dass beide Länder mit ihrer realpolitischen Argumentation gleichzeitig die alte geopolitische Theorie der Einflusssphären9 stützen, indem sie behaupten, die Nato sei beim Eindringen in den Sicherheitsbereich Russlands zu weit gegangen. Das stehe in deutlichem Widerspruch zum historischen internationalen Verhalten Lateinamerikas, die Interventionspolitik der USA zu kritisieren und sich dieser zu widersetzen. 

Die von Mijares präsentierte Ländergruppierung und kausale Einordnung ist nicht an allen Stellen konsistent. Es fehlt beispielsweise eine Analyse zur inkonsistenten Position Argentiniens.10 In der zweiten Gruppe wird Ecuador nicht genannt – ein Land, das 2009 neben Kuba und Argentinien eine strategische Partnerschaft mit Moskau etablierte und seitdem zu einem seiner engsten Partner11 in der Region zählte. Bei allen Abstimmungen stimmte Ecuador dennoch gegen Russland. 

Der Beitrag gibt einen guten Überblick über die lateinamerikanischen Reaktionen auf den russischen Einmarsch in der Ukraine und zeigt, dass diese nicht nur nicht homogen, sondern teilweise inkohärent mit ihren eigenen proklamierten außenpolitischen Prinzipien sind. 

Fußnoten
11

S. dazu den Sammelband von Rouvinski/Jeifets (Hrsg.), Rethinking Post-Cold War Russian-Latin American Relations, Routledge, 2022. ISBN 9781032021256.

Im Interview für das Time-Magazin meinte Lula zwar, Putin hätte nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen. Trotzdem trage nicht nur er die Schuld. Die USA und die EU seien ebenso schuldig. Sie hätten verbindlich versprechen müssen, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten werde. „Wenn man Frieden will, muss man Geduld haben“, fügte er hinzu. Man hätte sich 10, 15, 20 Tage, einen ganzen Monat lang an den Verhandlungstisch setzen und versuchen können, eine Lösung zu finden. Schließlich sagte er, Präsident Selenskij sei genauso wie Putin für den Krieg verantwortlich: https://time.com/6173232/lula-da-silva-transcript/

 Von den 33 Mitgliedern der Gruppe Lateinamerika und Karibik stimmten 20 für den Antrag, neun enthielten sich, drei stimmten dagegen. Venezuela konnte nicht abstimmen: https://news.un.org/es/story/2022/04/1506852

Der Überfall auf die Ukraine und die steigenden Energiepreise führten allerdings dazu, dass die USA sich wieder dem ölreichen Venezuela zuwenden. Im März 2022  nahmen Biden-Gesandte Gespräche mit der von den USA eigentlich nicht anerkannten Maduro-Regierung auf, kurz nachdem Washington die russischen Energieimporte verboten hatte. Der Dialog ebnete den Weg für einen Gefangenenaustausch im Oktober 2022. Die USA verlangten von Maduro auch die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Opposition als Voraussetzung für künftige Zugeständnisse: https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-12-08/venezuela-us-relations-shift-could-aid-oil-production?leadSource=uverify%20wall. Inzwischen ist auch bekannt, dass das amerikanische Ölunternehmen Chevron, Ölförderung und -verkauf in Venezuela wieder aufnehmen darf: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/chevron-darf-in-venezuela-wieder-oel-foerdern-18494536.html

 Zu Bolivien muss allerdings angemerkt werden, dass die politischen Beziehungen Moskaus zu diesem südamerikanischen Land im 21. Jahrhundert zwar gut, jedoch nicht so intensiv wie mit Kuba, Nicaragua und Venezuela waren. 

Während der ehemalige kolumbianische Präsident Ivan Duque (bis 7. August 2022) Russlands Überfall scharf verurteilte und sich mit der Ukraine solidarisierte, nimmt sein Nachfolger Gustavo Petro eine neutrale Position ein und betont die Notwendigkeit von Friedensverhandlungen.

Sechs der 15 Vollmitglieder der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) Barbados, Belize, Guyana, St. Kitts und Nevis, Surinam, Trinidad und Tobago sowie der zentralamerikanische Staat El Salvador.

 Als erfolgreiches Beispiel einer Außenpolitik im Sinne einer Autonomie durch Diversifizierung der Kooperationspartner gilt die Politik Brasiliens unter dem Präsidenten Lula da Silva (2003-2011). Siehe dazu Tullo Vigevani und Gabriel Cepaluni: Lula’s foreign policy and the quest for autonomy through diversification. In: Third World Quarterly. Band 28, Nr. 7, 2007, S. 1309-1326. 

 Die USA definierten zum Beispiel im 19. Jahrhundert in ihrer Monroe-Doktrin die nord- und südamerikanischen Kontinente als ihre ausschließliche Interessensphäre.

 Argentinien unterstützte alle UN-Resolutionen zur Verurteilung Russlands, enthielt sich aber Ende April 2022 bei der Resolution der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Russland als ständigen Beobachter suspendierte.

Der 2021 gewählte erzkonservative Präsident Guillermo Lasso hat einen Kurswechsel vorgenommen und sich auf die USA umorientiert.

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Die Estrada-Doktrin wurde am 27. September 1930 veröffentlicht und besagt, dass sich keine Nation in die inneren Angelegenheiten einer anderen Nation einmischen darf.

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