Mehr als sechs Millionen Menschen sind nach der russischen Invasion der Ukraine nach Europa geflohen und wurden von unzähligen Freiwilligen an Bahnhöfen und in Unterkünften empfangen. Quantitativ übertrifft die Fluchtbewegung des Jahres 2022 damit deutlich den „langen Sommer der Migration“ 2015/2016, als mehr als eine Million Menschen aus dem Nahen Osten und anderen Krisenregionen in die Europäische Union kamen. Auch wenn die Ankunft von Millionen Ukrainer:innen nicht als „Flüchtlingskrise“ politisiert wurde und die ihnen entgegengebrachte Stimmung grundsätzlich positiv ist, stellt die Aufnahme von Millionen Neuankömmlingen eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik in Europa dar.
Die MIDEM-Jahresstudie untersucht auf Basis einer repräsentativen Befragung von 20.403 Personen im Oktober 2022 die Einstellungen zu Fluchtmigration und Asylpolitik in zehn europäischen Ländern und vergleicht diese mit dem Stimmungsbild von 2015/16.
Die Studie untermauert den Eindruck kritischer Beobachter:innen, dass nicht alle Flüchtlinge in Europa gleichermaßen willkommen geheißen werden.
Der Befund der „selektiven Solidarität“ lässt sich mit dem soziologischen Konzept des Othering einordnen.
Die MIDEM-Studie verdeutlicht aber auch, dass die Akzeptanz von Migration von der sozialen und wirtschaftlichen Situation abhängt. So tendieren 39 Prozent der Befragten dazu, die Unterstützung für die Ukraine einzuschränken, wenn negative wirtschaftliche Folgen für das eigene Land drohen. Lediglich eine knappe Mehrheit von 40 Prozent will auch bei negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen solidarisch bleiben. Die größte Besorgnis über wirtschaftliche Folgekosten zeigt sich in der Tschechischen Republik (54%), Ungarn (51%) und Griechenland (49%), wo sich eine deutliche Mehrheit dafür ausspricht, die Unterstützung zu reduzieren, um Kosten zu vermeiden.
Wie andere Untersuchungen zeigen, sind neben den sozialen Ängsten auch die Wahrnehmung des Krieges und die Einschätzung seiner tieferen Ursachen relevante Faktoren, die die unterschiedliche Unterstützungsbereitschaft in Europa erklären können.
Die Ergebnisse der MIDEM-Studie machen somit auf einen komplexen Zusammenhang aufmerksam: Werden die ökonomischen Kosten für die Bevölkerung spürbar, sinkt bei vielen auch die Unterstützungsbereitschaft.