te.ma ist seit dem 01. August 2024 bis auf Weiteres inaktiv und befindet sich im Archiv-Modus. Alle Publikationen sind weiter zugänglich. Der Kommentarbereich ist jedoch abgeschaltet. Bestehende Nutzerkonten bleiben bis 31. Juli 2025 weiter zugänglich, neue Nutzerkonten können nicht mehr angelegt werden. Unser Newsletter wird nicht mehr weiter bespielt.

Gibt es ein Kostenlimit für die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten?

Re-Web
Hans Vorländer2022
Re-Web

Gibt es ein Kostenlimit für die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten?

»Europa und Fluchtmigration aus der Ukraine«

Inhalte

Intro

Geschrieben von Julia Glathe

Bei te.ma veröffentlicht 11.10.2023

te.ma DOI 10.57964/91vd-r771

Geschrieben von Julia Glathe
Bei te.ma veröffentlicht 11.10.2023
te.ma DOI 10.57964/91vd-r771

Die Jahresstudie 2022 des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) zieht eine Bilanz des Umgangs mit Fluchtmigration in Europa. Ähnlich der Migration der Jahre 2015/16 und trotz der hohen Unterstützungsbereitschaft für Flüchtende aus der Ukraine verschiebe sich mittlerweile der öffentliche Fokus hin zu den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges. Zukünftig könne das zu einem Rückgang der europäischen Solidarität führen.

Mehr als sechs Millionen Menschen sind nach der russischen Invasion der Ukraine nach Europa geflohen und wurden von unzähligen Freiwilligen an Bahnhöfen und in Unterkünften empfangen. Quantitativ übertrifft die Fluchtbewegung des Jahres 2022 damit deutlich den „langen Sommer der Migration“ 2015/2016, als mehr als eine Million Menschen aus dem Nahen Osten und anderen Krisenregionen in die Europäische Union  kamen. Auch wenn die Ankunft von Millionen Ukrainer:innen nicht als „Flüchtlingskrise“ politisiert wurde und die ihnen entgegengebrachte Stimmung grundsätzlich positiv ist, stellt die Aufnahme von Millionen Neuankömmlingen eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik in Europa dar. 

Die MIDEM-Jahresstudie untersucht auf Basis einer repräsentativen Befragung von 20.403 Personen im Oktober 2022 die Einstellungen zu Fluchtmigration und Asylpolitik in zehn europäischen Ländern und vergleicht diese mit dem Stimmungsbild von 2015/16.1 Zudem analysiert die Studie die Rolle der Zivilgesellschaft und die politisch-administrativen Maßnahmen bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland und den Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn.

Die Studie untermauert den Eindruck kritischer Beobachter:innen, dass nicht alle Flüchtlinge in Europa gleichermaßen willkommen geheißen werden.2 Während die Aufnahmebereitschaft gegenüber ukrainischen Flüchtlingen überall groß zu sein scheint, bleibe die Ablehnung gegenüber „muslimischer Zuwanderung“ in ganz Europa hoch, insbesondere in Tschechien (74%), Griechenland (63%) und Ungarn (60%). Der vorherrschende Integrationsdiskurs in den jeweiligen Ländern scheint bei dieser Bewertung eine wichtige Rolle zu spielen.3 Vor allem in Schweden, Tschechien und Polen glaube eine Mehrheit der Befragten, dass Ukrainer:innen leichter zu integrieren seien als Personen aus dem Nahen Osten oder Afrika.

Der Befund der „selektiven Solidarität“ lässt sich mit dem soziologischen Konzept des Othering einordnen.4 Othering bezeichnet die Unterscheidung und Abgrenzung von Individuen und Gruppen anhand bestimmter Zugehörigkeits- bzw. Fremdheitskonstruktionen, für die beispielsweise Religion, Geschlecht und Ethnizität als Unterscheidungsmerkmale herangezogen werden. Die große Aufnahmebereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen zeugt somit nicht nur von humanitären Werten, sondern steht auch exemplarisch dafür, wie eng die Wahrnehmung von Bedürftigkeit und, darauf aufbauend, die Legitimation von Migration mit gesellschaftlichen Hierarchien und Grenzziehungen verbunden sind.

Die MIDEM-Studie verdeutlicht aber auch, dass die Akzeptanz von Migration von der sozialen und wirtschaftlichen Situation abhängt. So tendieren 39 Prozent der Befragten dazu, die Unterstützung für die Ukraine einzuschränken, wenn negative wirtschaftliche Folgen für das eigene Land drohen. Lediglich eine knappe Mehrheit von 40 Prozent will auch bei negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen solidarisch bleiben. Die größte Besorgnis über wirtschaftliche Folgekosten zeigt sich in der Tschechischen Republik (54%), Ungarn (51%) und Griechenland (49%), wo sich eine deutliche Mehrheit dafür ausspricht, die Unterstützung zu reduzieren, um Kosten zu vermeiden.

Wie andere Untersuchungen zeigen, sind neben den sozialen Ängsten auch die Wahrnehmung des Krieges und die Einschätzung seiner tieferen Ursachen relevante Faktoren, die die unterschiedliche Unterstützungsbereitschaft in Europa erklären können.5 Die MIDEM-Studie bestätigt das: So würde beispielsweise in Griechenland, Ungarn, Italien und Tschechien mehr als ein Drittel der Befragten die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine eher bei der Nato als bei Russland sehen. Das verweist auf die Dynamik der Akzeptanz von Migration und zeigt, dass die Unterstützungsbereitschaft für ukrainische Flüchtlinge nicht in Stein gemeißelt ist. 

Die Ergebnisse der MIDEM-Studie machen somit auf einen komplexen Zusammenhang aufmerksam: Werden die ökonomischen Kosten für die Bevölkerung spürbar, sinkt bei vielen auch die Unterstützungsbereitschaft.6 Dieser Prozess verläuft wiederum umso schneller, je weniger eindeutig die Kriegsursachen im öffentlichen Diskurs interpretiert werden. Ob die Willkommenskultur gegenüber ukrainischen Flüchtlingen anhält, wird daher stark von der weiteren Dynamik des Krieges und der Fähigkeit der Regierungen abhängen, die sozialen Folgekosten abzufedern.

Fußnoten
6

Die untersuchten Länder sind Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, die Niederlande, Polen, Schweden, Spanien, Tschechien und Ungarn.

David de Coninck: The Refugee Paradox During Wartime in Europe. How Ukrainian and Afghan Refugees are (not) Alike. In: International Migration Review. Band 57, Nr. 2, 2023, S. 578–586. https://doi.org/10.1177/01979183221116874

Siehe für eine Medienanalyse im Kontext der ukrainischen Fluchtmigration nach Europa Sergej Wildemann, Claudia Niederée und Erick Elejalde: Migration Reframed? A multilingual analysis on the stance shift in Europe during the Ukrainian crisis. Paper presented at the WWW ’23, April 30–May 4, 2023, Austin, TX, USA. 2023 https://doi.org/10.1145/3543507.3583442.

Céline Paré: Selective Solidarity? Racialized Othering in European Migration Politics. In: Amsterdam Review of European Affairs. Band 1, Nr. 1, 2022, S. 42–61.

Alexandru D. Moise, James Dennison und Hanspeter Kriesi: European attitudes to refugees after the Russian invasion of Ukraine. In: West European Politics. 2023, S. 1–26. https://doi.org/10.1080/01402382.2023.2229688

Thomas Turner und Christine Cross: Do Attitudes to Immigrants Change in Hard Times? Ireland in a European Context. In: European Societies. Band 17, Nr. 3, 2015, S. 372–395. https://doi.org/10.1080/14616696.2015.1035298

Re-Web

Offener Zugang
Offener Zugang bedeutet, dass das Material öffentlich zugänglich ist.
Verwandte Artikel
Diskussionen
0 Kommentare
Es gibt neue Kommentare!
Te.ma befindet sich im Archiv-Modus und daher ist die Kommentarfunktion deaktiviert.

Noch keine Kommentare

te.ma sammelt keine Cookies. Um mit der Allgemeinen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) übereinzustimmen, müssen wir dich aber informieren, dass von uns eingebundene externe Medien (z.B. von YouTube) möglicherweise Cookies sammeln. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.