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Dieser Beitrag ist das Beste, was man bislang dazu lesen konnte: ausgewogen, historisierend, kontextualisierend und verkomplizierend. Ich bin sehr dankbar, dass darauf hingewiesen wurde, dass die Definition bereits während ihrer Entstehung eine politisierte war: sie ist ohne den Kalten Krieg nicht zu denken.

Diese Zusammenhänge sind nur wenig bekannt: Lemkins Genozid-Konzept schloss im Verlauf des Kalten Krieges dann doch auch Gewalt im Stalinismus, wie Deportationen und Hungersnot in der Ukraine, ein. So argumentierte er im Jahr 1951: „The Soviet Union was the only country that could be indicted for genocide“.[1]

Lemkin sprach vom „russischem Genozid“, also Verbrechen, die von Russen dezidiert gegen die Bevölkerung Ostmitteleuropas ausgetragen wurden. Lemkin tendierte dazu, das Wort „sowjetisch“ durch „russisch“ zu ersetzen, um tatsächlich die ethnische Komponente beizubehalten.

Eine gute Illustration für die mangelhafte Stichfestigkeit der Argumentation von Lemkin ist zum Beispiel seine These, dass es den Kommunisten deswegen gelungen ist, den Genozid gegen die Menschen im Baltikum durchzuführen, weil die Deutschen bereits die politischen und intellektuellen Führungen Estlands, Lettlands und Litauens beseitigt gehabt hätten. Während der stalinistischen antisemitischen Kampagne in der Sowjetunion und Ostmitteleuropa sprach Lemkin über den „kommunistischen Genozid gegen Juden“.

Die treuesten Verbündeten fand Lemkin in den Exil-Gemeinschaften der baltischen Staaten, die seine Kritik an der Sowjetunion auch finanziell unterstützten. Die Exilgemeinschaft der baltischen Länder inkorporierte den Begriff ziemlich bald in ihre politische Sprache. Der Genozid-Begriff wurde alsdann ein fester Bestandteil der Kalten-Kriegs-Rhetorik und entwickelte sich zu einem „Gummi-Wort“ für all die Formen der Repression - vor allem der kommunistischen.

Ich möchte auf die gegenwärtigen Funktionen des Genozidbegriffes hinweisen. Bezeichnenderweise unterscheiden sie sich von Land zu Land, was von ihrer enormen Politisierung zeugt.

  1. In Litauen wies der Begriff des Genozids (1992, in Anwendung auf Deportationen während des Stalinismus) den sowjetischen Verfolgungspraktiken viel expliziter als in Nachbarrepubliken einen verbrecherischen Charakter zu. Hier funktionierte der Genozid-Begriff, um die internationale Staatengemeinschaft davon zu überzeugen, die staatliche Souveränität des nachsowjetischen Staates anzuerkennen.

  2. In der Forschung wird zudem auf die weitere Funktion des Genozid-Begriffes hingewiesen: die Auslagerung der Verantwortung bzw. Schuld für Massenverbrechen. Als Ergebnis oder gar Intention eines solchen Schuldexports wird die zornige Reaktion des angeklagten Staates einkalkuliert, was zu Erinnerungskonflikten und diplomatischen Verstimmungen führt. Diese erinnerungskulturellen Zusammenstöße wiederum haben das Potential zu echten Kriegen zu werden. Es ist zu bedenken, dass die inflationäre Nutzung der Begriffe Krieg, Konflikt, Schlachtfeld in Bezug auf Erinnerungskulturen zur self fulfilling prophecy werden kann.

  3. Zudem kann der Genozid-Begriff dafür genutzt werden, eine klare Hierarchie des Leidens und der Opfer aufzubauen, in der die leidensvolle Geschichten der „Anderen“ in den Schatten gedrängt werden können. Der Dreh- und Angelpunkt jeder Geschichtspolitik, die auf Legitimation der „harten Politik“ aus ist, zu vermitteln, wer als „richtige Opfer“ zu gelten hat. Erfolgt es auf ethnischen Prinzipien, werden Diskurse anderer Ethnien ausgeklammert. Ähnlich verfährt es sich mit der Ethnisierung der Täter – im osteuropäischen Fall werden sie „russifiziert“.

  4. Zudem kann der ausschließliche Fokus auf den erlittenen Genozid als Entschuldigung oder „Deckerinnerung“ (Aleida Assmann) für eigene Verbrechen genutzt werden. Wie Koselleck schrieb: „Wenn alle Opfer sind, gibt es keine Täter“. Es können Diskurse wie „Doppelter Genozid“ entstehen: so wie in Litauen der Nachkriegsjahre, wenn die litauische Kollaboration am Holocaust ab 1941 mit dem (vermeintlichen) Verrat der Juden an der litauischen nationalen Idee 1939 entschuldigend erklärt wurde. Hier wurden die antijüdischen Ausschreitungen während der deutschen Besatzung als Revanche für die Verbrechen der Kommunisten verstanden.

    Dass der Begriff Genozid heute Kontroversen auslöst, liegt an der häufigen Mangel an Quellen, um Situationen als genozidal einzustufen. Doch während Historikerinnen und Historiker vorsichtig mit diesem Begriff umgehen, wird diese Einordnung insbesondere durch Politiker sehr schnell vorgenommen. Ein Beispiel dafür ist Situation in Russland.

    Immer mehr entwickelte sich die Erinnerungspolitik, den (fehlenden) Dialog mit den post-sowjetischen Staaten rezipierend, in Richtung der „klassischen“ Selbst-Viktimisierung und der Postulierung der Genozid-These hinsichtlich der deutschen Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion. In einem Artikel 2019 bezeichnete ich es noch als victim turn in der Geschichtspolitik, nun würde ich es verstärken – es ist seit 2020 tatsächlich ein genocide turn in der Geschichtspolitik: Konstruktion und Vermittlung des Genozid-Begriffes in Bezug auf die Gewalt auf den besetzten Gebieten.

    Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Menschen auf den deutsch okkupierten Gebieten in der Sowjetunion unter Generalverdacht des Verräters standen und verschiedene Arten von Diskriminierung erfuhren. Nun sind sie nicht nur von diesem Stigma befreit, sondern sind die letzten Zeugen für die Genozid-These. Geschichtswissenschaftlich mag Geschichte deutscher Verbrechen an den Zivilisten auf den besetzten Gebieten der Sowjetunion aufgearbeitet sein. Nun geht es aber um öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber dieser Opfergruppe, die auf verschiedenen Kanälen läuft: durch Denkmalpolitik, Bildungsprojekte, Publikationen und auch der strafrechtlichen Ermittlung gegen die noch lebenden Täter. Das Thema der NS-Verbrechen wird immer aktueller und klingt immer lauter.

    Teilweise war es eine Reaktion zum 75. Jahrestag des Kriegsendes (2020) auf die Umkehr der Opfer- und Täterrollen in den osteuropäischen und in den deutschen Medien und auf das “Vergessen” der Erwähnung der Befreiungrolle der Roten Armee. Immer mehr kam der osteuropäische Diskursrahmen als Orientierung dazu: die Deutung des deutschen Krieges als Genozid an der sowjetischen Bevölkerung wurde zur ultimativen Karte, die nun ausgespielt wurde. Denn: wer Opfer des Genozids ist, kann nur auf der moralisch richtigen Seite der Geschichte stehen ( zu Funktionen siehe oben).

    Die Funktion des Gedenkens an die Opfer genozidaler Gewalt ist eine gänzlich andere wie bei dem Siegesgedenken: Es geht nicht mehr um Versöhnung (zwischen den Siegern und Besiegten), sondern um Ressentiments, Entfremdung, und oft – Vergeltung. Gerade in der letzteren aggressiven Deutung gewann das Geschichtsbild “Genozid” ihre unheimliche Funktionalisierung vor dem russischen Angriff auf die Ukraine 24.2.2022: Es ging, so die russische Führung, um „Genozid“ an den Bewohnern der Ostgebiete durch die Kiewer Militärmacht, und es sollte – wie damals 1945 - darum gehen, diese Gebiete zu „befreien“ und den „Genozid“ zu beenden. Dies ist sicherlich das aktuellste Beispiel dafür, wie der Genozid-Begriff durch die politische Instrumentalisierung entwertet wird und als (auch tatsächliche) Munition in der Auseinandersetzung genutzt wird. Hier kann der sinnentleerte, extrem emotionalisierende Genozid-Begriff zur tatsächlichen genozidalen Gewalt führen.

[1] Weiss-Wendt, Anton: Hostage of Politics: Raphael Lemkin on “Soviet Genocide”. In: Journal of Genocide Research 7(4) /2005, S. 551-559. hier S. 551.

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