Mehrsprachigkeit ist eine der offenkundigsten Spielarten der Koexistenz unterschiedlicher Gruppierungen am selben Ort. Sie kann soziale Grenzen so klar aufdecken, dass die Sprache zum Kennzeichen des Ein- oder Ausschlusses wird – letzterer wird als
Diese Begegnung mehrerer Sprachen mitsamt kulturellem Unterbau ist die Norm der Mehrsprachigkeit, aber nicht das einzig mögliche Szenario: Seit knapp 200 Jahren gibt es immer wieder Ansätze, Menschen durch neu entworfene, „neutrale“ Sprachen zu einen.
Ausgedachte Sprachen gibt es viele, die meisten von ihnen haben keine bis nur sehr wenige aktive Sprecher*innen. Die Vitalität einer Plansprache bemisst Gobbo an ihrer Verbreitung nach der ursprünglichen Entwicklungsphase, denn für die meisten bleibt ihr aktiver Gebrauch an die Lebenszeit ihrer Autor*innen gebunden. Versterben sie, stirbt auch die Sprache und bleibt im besten Fall als Name einem kleinen Kreis von Spezialinteressierten bekannt – Sprachtod auf minimalster Ebene. Aber auch andere Faktoren wie eine zu anspruchsvolle Struktur (beim Solresol, 1827) oder der Starrsinn des Erfinders (beim Volapük, 1879) können eine aufstrebende Bewegung zum Erliegen bringen.
Die Motivation für die Erschaffung einer neutralen Sprache sei in Zamenhofs Jugend zu suchen, so Gobbo. Er wuchs als
Während der ersten Phase, der Pionierperiode zu Zamenhofs Lebzeiten (1887-1917), strebte man nach einer apolitischen, transnational-kollektiven Kultur, die ideologische Fragen explizit ausklammert. Schon zu dieser Zeit ergaben sich hieraus zwei lokalisierte Strömungen: der schweizerische Neutralismus wollte für Esperantist*innen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft ein globales Netzwerk von Kultur- und Servicestätten aufbauen, den Esperantismus zu einer der Staatsbürgerschaft gleichberechtigten, aber herkunftsneutralen Identität erheben. Der französische Neutralismus, der parallel entstand, erachtete den Esperantismus dagegen als der Nationalität untergeordnet, sodass sich Sprecher*innenschaften in ortsspezifischen Zentren organisieren sollten, um von dort aus weltweit zu agieren. Entsprechend war die Funktion die Sprache eher die eines Werkzeugs zur Erleichterung internationaler Beziehungen.
Ihrer Selbstdefinition zum Trotz war die Esperantobewegung durch ihren egalitären Ansatz von Anfang an auch Epizentrum für Aktivismus und wurde z.B. früh von Vertreter*innen des Vegetarismus oder christlichen Organisationen genutzt. In der zweiten Phase, der Zwischenkriegszeit (1918-1939), entwickelten pazifistische, internationalistische und kommunistische Strömungen ein Interesse an der Sprache als emanzipatorisches Mittel. So verfestigte sich das Bild eines vorwiegend links geprägten Esperantismus. Diesem Aufstreben setzte die dritte Phase mit dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) ein jähes Ende, denn die totalitären Regimes dieser Zeit infiltrierten die Bewegung unter dem Verdacht der Spionage und ermordeten Esperantist*innen aufgrund ihrer politischen Ausrichtung und Zamenhofs Wurzeln. Im Dritten Reich galt Esperanto explizit als Werkzeug der jüdischen Diaspora. Die Identität des Esperantismus an sich wurde durch Verfolgung aus der Neutralität in den Widerstand gedrängt.
In der aktuellen Phase (1946-heute) definierte sich die Bewegung als Reaktion auf das Kriegsgeschehen neu und versuchte, Esperanto als eine der Arbeitssprachen der UN zu etablieren. Obwohl dies erfolglos blieb, verfestigte sich dadurch endgültig der französische Neutralismus in seiner Anerkennung des Primats der Nationalstaaten. Durch das Aufkommen des Englischen als de facto Lingua franca konnte die Sprache nie die Verbreitung erreichen, auf die sie während ihrer Anfangszeit abzielte. Nach einigem Ringen habe sich die Sprachgemeinschaft mit dieser Situation arrangiert, so Gobbo, und neben einigen kurzlebigen Territorialbestrebungen in Neutral-Moresnet südwestlich von Aachen oder auf der Roseninsel vor Rimini verortet man Esperantujo („Esperantoland“) seit den 1990ern in den Individuen selbst. Sprecher*innen des Esperanto sind per se mehrsprachig und häufig sogar polyglott: Gobbo nennt einen Durchschnitt von 3,3 Sprachen – unter modernen Esperantist*innen gebe es ein Bewusstsein für den Wert von Mehrsprachigkeit, und wer seine Begeisterung für eine Sprache einsetzt, tue dies häufig auch für die Rechte anderer, ihre jeweilige Sprache zu erhalten.
Obwohl man dem Artikel Gobbos Mitgliedschaft im Esperanto-Weltbund klar anliest, lässt sich aus ihm schließen, dass eine absolute sprachliche Neutralität vermutlich unerreichbar bleiben wird – selbst wenn man sie so minimal definiert, wie Gobbo es tut. Esperanto ist nicht die Lösung aller Sprachfragen oder gar der Abriss des Turms zu Babel. Das muss es aber auch nicht sein. Plansprachen sind experimentelle Mehrsprachigkeit, die neue Perspektiven auf bestehende Muster werfen. Abstrahiert eine Sprache stark von bestehenden Sprachsystemen, ist sie nicht niederschwellig genug und stirbt möglicherweise den minimalen Sprachtod. Orientiert sich die Sprache an ihrer Umgebung, gewährt sie bestimmten Gebieten einen Vorteil, über den wiederum politische Einflüsse aus konkreten sozialen Zusammenhängen Einfluss nehmen. Eine ahistorische Sprache ohne eigene Kultur wird bald von ihren Benutzer*innen um eine solche angereichert. Insgesamt ist und bleibt Sprache, ob natürlich oder menschengemacht, ein soziales Werkzeug, das untrennbar mit seinen Anwendungsgebieten verbunden ist und mit ihnen in Wechselwirkung steht. Fest steht aber auch: Je mehr Werkzeuge uns zur Verfügung stehen, desto vielfältiger können wir uns mit den Prozessen unseres Handelns auseinandersetzen.