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Esperanto: Kann es eine neutrale Mehrsprachigkeit geben?

Re-Paper
Federico Gobbo2017

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 09.10.2023

te.ma DOI 10.57964/kfgf-wa23

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 09.10.2023
te.ma DOI 10.57964/kfgf-wa23

In seinem Artikel durchleuchtet Interlinguist Federico Gobbo die 135-jährige Geschichte des Esperanto: einer Sprache, die zwischenmenschliche Neutralität schaffen wollte, aber selbst zum Spielball der soziopolitischen Strömungen ihrer Zeit wurde. Gobbo vollzieht die unterschiedlichen Stadien des Projekts nach und hinterfragt, was Neutralität im Mehrsprachigkeitskontext überhaupt bedeuten kann.

Mehrsprachigkeit ist eine der offenkundigsten Spielarten der Koexistenz unterschiedlicher Gruppierungen am selben Ort. Sie kann soziale Grenzen so klar aufdecken, dass die Sprache zum Kennzeichen des Ein- oder Ausschlusses wird – letzterer wird als Linguizismus bezeichnet. Unter der Oberfläche des Hörbaren erstreckt sich dabei immer auch ein Netzwerk aus Faktoren wie Familienbanden, kollektiven Erinnerungen und Anspielungen, Geschichte(n), Humor und vielem mehr. All diese werden mitberührt, wenn verschiedene Sprachen aufeinandertreffen.

Diese Begegnung mehrerer Sprachen mitsamt kulturellem Unterbau ist die Norm der Mehrsprachigkeit, aber nicht das einzig mögliche Szenario: Seit knapp 200 Jahren gibt es immer wieder Ansätze, Menschen durch neu entworfene, „neutrale“ Sprachen zu einen. Plan- oder Hilfssprachen dieser Art versuchen sich am Umkehrschluss zu der oben beschriebenen Situation: Ein Sprache, die keine eigene Geschichte hat oder an ein bestimmtes Volk, eine Nation oder Ethnie gebunden ist und nach Möglichkeit lokalkoloritfrei auftritt, soll allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Sie könne so als bestimmendes  Merkmal eine neue Gruppe erschaffen, unabhängig von der Herkunft oder Zugehörigkeit ihrer Sprecher*innen. Federico Gobbo, Professor für Interlinguistik an der Universität Amsterdam, untersucht die Umsetzbarkeit dieses Neutralitätsanspruchs anhand der erfolgreichsten und bekanntesten Plansprache der Welt: Esperanto.

Ausgedachte Sprachen gibt es viele, die meisten von ihnen haben keine bis nur sehr wenige aktive Sprecher*innen. Die Vitalität einer Plansprache bemisst Gobbo an ihrer Verbreitung nach der ursprünglichen Entwicklungsphase, denn für die meisten bleibt ihr aktiver Gebrauch an die Lebenszeit ihrer Autor*innen gebunden. Versterben sie, stirbt auch die Sprache und bleibt im besten Fall als Name einem kleinen Kreis von Spezialinteressierten bekannt – Sprachtod auf minimalster Ebene. Aber auch andere Faktoren wie eine zu anspruchsvolle Struktur (beim Solresol, 1827) oder der Starrsinn des Erfinders (beim Volapük, 1879) können eine aufstrebende Bewegung zum Erliegen bringen.1 Esperanto – ursprünglich einfach la lingvo internacia („die internationale Sprache“) – war das erste Projekt, das sich in größerem Ausmaß etablieren konnte. Entwickelt vom Augenarzt Ludwig Lejzer Zamenhof und 1887 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt2, kann Esperanto mittlerweile auf über 135 Jahre ungebrochene Verwendung zurückblicken. Gobbo gibt als aktuelle Sprecher*innenzahl die konservative Schätzung von 10.000 Personen an, gibt aber auch zu bedenken, dass Angebote wie der Duolingo-Kurs von über einer Million Personen genutzt werden. Er führt diesen Erfolg auf drei Faktoren zurück: den konkurrenzarmen Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, die romanisch-germanisch-slawisch geprägte und daher für Europäer*innen niederschwellige, linguistische Struktur (vgl. Esp. mi legas la gazeton – Deu. ich lese die Zeitung – Engl. I’m reading the newspaper – Frz. je lis le journal – Pol. czytam gazetę) und die Ideologie seiner Sprachgemeinschaft mit dem Fokus auf Neutralität. Der Autor definiert diese als „ethnische Neutralität“, womit er die Gemeinschaftszugehörigkeit auf Basis der Sprachkenntnis, aber unabhängig von anderen sozialen Faktoren meint, in Abgrenzung zu „absoluter Neutralität“. Hiermit ist ein Sprachsystem gemeint, das in allen relevanten Faktoren wie Grammatik, Aussprache, Struktur des Wortschatzes und der zugrundegelegten Kategorien gleichermaßen leicht oder schwer für alle Menschen, unabhängig ihrer Muttersprache, ihres Bildungsgrades oder ihrer Erfahrung mit anderen Sprachen ist. Gobbo tut diese als nicht anwendbares, abstraktes Konstrukt ab.

Die Motivation für die Erschaffung einer neutralen Sprache sei in Zamenhofs Jugend zu suchen, so Gobbo. Er wuchs als Aschkenasi im Białystok des russischen Kaiserreichs zwischen Jiddisch, Polnisch, Russisch und Deutsch auf und störte sich früh an den Barrieren, die sich in den Sprach- und Religionsunterschieden vergegenwärtigten. Auch die „ethnische Neutralität“ des Esperanto ist also keine allgemeingültige Neutralität, sondern eine Reaktion auf spezifische kulturelle Umstände. Entsprechend ist die Philosophie des Esperanto auch nicht unabhängig von historisch gewachsenen Sprach- und Kultursystemen, sondern versucht, einen Kompromiss zwischen bestehenden Ausdrucksmitteln in einen neuen, konfessions- und kulturübergreifenden Kontext zu überführen. Gobbo zeichnet die ideologische Geschichte der Sprache durch insgesamt vier Phasen nach. Er zeigt, dass sich die Interpretation des Neutralitätsbegriffs stets an den sich wandelnden äußeren Umständen der Sprachgemeinschaft orientiert und somit als Reaktion auf Veränderungen immer wieder neu ausgehandelt werden muss. 

Während der ersten Phase, der Pionierperiode zu Zamenhofs Lebzeiten (1887-1917), strebte man nach einer apolitischen, transnational-kollektiven Kultur, die ideologische Fragen explizit ausklammert. Schon zu dieser Zeit ergaben sich hieraus zwei lokalisierte Strömungen: der schweizerische Neutralismus wollte für Esperantist*innen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft ein globales Netzwerk von Kultur- und Servicestätten aufbauen, den Esperantismus zu einer der Staatsbürgerschaft gleichberechtigten, aber herkunftsneutralen Identität erheben. Der französische Neutralismus, der parallel entstand, erachtete den Esperantismus dagegen als der Nationalität untergeordnet, sodass sich Sprecher*innenschaften in ortsspezifischen Zentren organisieren sollten, um von dort aus weltweit zu agieren. Entsprechend war die Funktion die Sprache eher die eines Werkzeugs zur Erleichterung internationaler Beziehungen.

Ihrer Selbstdefinition zum Trotz war die Esperantobewegung durch ihren egalitären Ansatz von Anfang an auch Epizentrum für Aktivismus und wurde z.B. früh von Vertreter*innen des Vegetarismus oder christlichen Organisationen genutzt. In der zweiten Phase, der Zwischenkriegszeit (1918-1939), entwickelten pazifistische, internationalistische und kommunistische Strömungen ein Interesse an der Sprache als emanzipatorisches Mittel. So verfestigte sich das Bild eines vorwiegend links geprägten Esperantismus. Diesem Aufstreben setzte die dritte Phase mit dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) ein jähes Ende, denn die totalitären Regimes dieser Zeit infiltrierten die Bewegung unter dem Verdacht der Spionage und ermordeten Esperantist*innen aufgrund ihrer politischen Ausrichtung und Zamenhofs Wurzeln. Im Dritten Reich galt Esperanto explizit als Werkzeug der jüdischen Diaspora. Die Identität des Esperantismus an sich wurde durch Verfolgung aus der Neutralität in den Widerstand gedrängt.

In der aktuellen Phase (1946-heute) definierte sich die Bewegung als Reaktion auf das Kriegsgeschehen neu und versuchte, Esperanto als eine der Arbeitssprachen der UN zu etablieren. Obwohl dies erfolglos blieb, verfestigte sich dadurch endgültig der französische Neutralismus in seiner Anerkennung des Primats der Nationalstaaten. Durch das Aufkommen des Englischen als de facto Lingua franca konnte die Sprache nie die Verbreitung erreichen, auf die sie während ihrer Anfangszeit abzielte. Nach einigem Ringen habe sich die Sprachgemeinschaft mit dieser Situation arrangiert, so Gobbo, und neben einigen kurzlebigen Territorialbestrebungen in Neutral-Moresnet südwestlich von Aachen oder auf der Roseninsel vor Rimini verortet man Esperantujo („Esperantoland“) seit den 1990ern in den Individuen selbst. Sprecher*innen des Esperanto sind per se mehrsprachig und häufig sogar polyglott: Gobbo nennt einen Durchschnitt von 3,3 Sprachen – unter modernen Esperantist*innen gebe es ein Bewusstsein für den Wert von Mehrsprachigkeit, und wer seine Begeisterung für eine Sprache einsetzt, tue dies häufig auch für die Rechte anderer, ihre jeweilige Sprache zu erhalten.

Obwohl man dem Artikel Gobbos Mitgliedschaft im Esperanto-Weltbund klar anliest, lässt sich aus ihm schließen, dass eine absolute sprachliche Neutralität vermutlich unerreichbar bleiben wird – selbst wenn man sie so minimal definiert, wie Gobbo es tut. Esperanto ist nicht die Lösung aller Sprachfragen oder gar der Abriss des Turms zu Babel. Das muss es aber auch nicht sein. Plansprachen sind experimentelle Mehrsprachigkeit, die neue Perspektiven auf bestehende Muster werfen. Abstrahiert eine Sprache stark von bestehenden Sprachsystemen, ist sie nicht niederschwellig genug und stirbt möglicherweise den minimalen Sprachtod. Orientiert sich die Sprache an ihrer Umgebung, gewährt sie bestimmten Gebieten einen Vorteil, über den wiederum politische Einflüsse aus konkreten sozialen Zusammenhängen Einfluss nehmen. Eine ahistorische Sprache ohne eigene Kultur wird bald von ihren Benutzer*innen um eine solche angereichert. Insgesamt ist und bleibt Sprache, ob natürlich oder menschengemacht, ein soziales Werkzeug, das untrennbar mit seinen Anwendungsgebieten verbunden ist und mit ihnen in Wechselwirkung steht. Fest steht aber auch: Je mehr Werkzeuge uns zur Verfügung stehen, desto vielfältiger können wir uns mit den Prozessen unseres Handelns auseinandersetzen.

Fußnoten
2

Das unglückliche Erbe des Volapük ist, dass sein Name in manchen Sprachen noch heute als Synonym für Kauderwelsch verwendet wird – so beispielsweise im dänischen Ausdruck Det er volapyk for mig („Das ist Volapük für mich“, frei übersetzt: „Ich verstehe nur Bahnhof“).

Der heute gebräuchliche Name Esperanto geht auf das Pseudonym zurück, unter dem Zamenhof sein Werk ursprünglich veröffentlichte: Doktoro Esperanto („Doktor Hoffend“).

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Linguizismus bezeichnet eine spezifische Form der Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Sprache, ihres Akzents oder Dialekts. Häufig richtet er sich gegen Minderheitensprachen oder Sprachformen bestimmter sozialer Gruppen.

Plansprachen und Hilfssprachen sind ein Typ von konstruierten, d.h. bewusst von Menschen erarbeiteten Sprachen. Weitere Typen sind logische und philosophische Sprachen, die als Experimente die Wechselwirkung zwischen Sprache und Kognition erforschen, sowie Kunstsprachen, die zum Zwecke des Weltenbaus in literarischen Werken, als linguistische Experimente in alternativen historischen Szenarien oder auch einfach zum persönlichen Ausdruck verwendet werden.

Die Interlinguistik erforscht die Struktur und den Einfluss von künstlichen Sprachen im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Muttersprachen.

Aschkenasim (hebräisch אַשְׁכְּנַזִים, Plural zu אַשְׁכְּנַזִי Aschkenasi) ist die Bezeichnung für mittel-, nord- und osteuropäische Juden und ihre Nachfahren.

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