Curator's Cut, 22 Dez 2022

Sind wir mit dem Gendern „falsch abgebogen“?

Sprache wandelt sich. Derzeit lässt sich ein Sprachwandel hin zu Beidnennungen und Genderstern beobachten, zumindest in Medien, Verwaltung und Universität. Aber hätte es auch andere Möglichkeiten zu einem geschlechtergerechten Sprachwandel gegeben, die womöglich verpasst wurden und die weniger Eingriffe in das Sprachsystem erfordert hätten? Ein Streitgespräch.

Gendergerechte Sprache?

Immer wieder entzündet sich der Streit über das geschlechtergerechte Sprechen im Deutschen am sogenannten generischen Maskulinum. In verschiedensten Sparten der Linguistik, von Psycholinguistik über Morphologie und Grammatik bis hin zu historischer Sprachwissenschaft, setzt man sich mit dem Thema auseinander. Kürzlich ist eine neue, KI-basierte Methodik hinzugekommen, die wir anlässlich der #linguistweets Twitter-Konferenz am 5.12.2022 auf tema vorgestellt haben. Sie untersucht anhand eines umfangreichen Textkorpus aus den Jahren 2010 bis 2019, ob die generisch intendierten Maskulin-Formen jeweils vor allem Männer oder auch Frauen bezeichnen. Das Ergebnis ähnelt dem der bekannten psycholinguistischen Assoziations- und Ergänzungsstudien: Selbst bei einem generisch gemeinten Gebrauch überwiegt die männliche Bedeutung. Wie die Autor*innen/Autoren im Titel ihrer Untersuchung zugespitzt sagen: „In German, all professors are male.“ Aber hilft diese Erhebung des Ist-Zustands unserer Sprache dabei, es zukünftig besser zu machen? 

Martin Krohs: Ich finde diese neue Studie von Dominic Schmitz, Viktoria Schneider und Julia Esser außerordentlich interessant, weil sie eine zweite Form von Empirie hinzufügt. Neben die – notorisch schwierig zu erhebenden – psychomentalen Daten aus der Psycholinguistik stellt sie nun auch Daten des Textkorpus selbst. Und ich würde auch zustimmen, es bestätigt den Tenor der psycholinguistischen Untersuchungen.

Die Frage, die ich mir stelle, ist aber: Welchen Stellenwert hat Empirie hier überhaupt, auf welcher der beiden Methoden sie auch beruhen mag? Diese Frage kann natürlich erst einmal anti-wissenschaftlich scheinen. Denn womit, wenn nicht mit experimentellen Daten, können wir sonst unser Urteilen über sprachliche Phänomene halbwegs sicher begründen? 

Aber gerade das ist der springende Punkt. Ich zweifle an, dass der sprachliche oder kognitive oder psychomentale status quo überhaupt ausschlaggebend ist für die Frage: Wie generisch ist das generische Maskulinum? Es geht bei der Frage der Generizität viel weniger um Fakten als um das Wollen. Man versteht eine ambige Form, sagen wir die Lehrer, so, wie man sie verstehen will. Und wenn sich dieses Wollen verändert, dann ändert sich auch die Verstehensweise, und dem läuft dann auch der sprachliche status quo hinterher: Die Sprache wandelt sich.

„Es geht bei der Frage der Generizität viel weniger um Fakten als um das Wollen.“ – M.K.

Man kann das gerade im Zusammenhang des Genderns gut beobachten. Für diejenigen, die Genderpraktiken selbst konsequent anwenden, verlieren solche Formen, die von den Sprechern oder Autoren generisch intendiert waren (aber formal mit den explizit-spezifischen zusammenfallen), mehr und mehr ihre Generizität. Wie mir neulich ein Bekannter sagte: „Mir scheint inzwischen, in Büchern aus dem 20. Jahrhundert ist überhaupt nur von Männern die Rede!“ – Warum scheint ihm das so? Die Bücher selbst haben sich ja nicht verändert. Was sich verändert hat, ist die Lesart oder die Verstehensweise: Mein Bekannter „sieht“ die Generizität nicht mehr, weil er sie nicht mehr sehen will – weil er ja nun die spezifische/explizite Lesart sehen will.

Das geschlechtsspezifisch-lesen-Wollen hat also den status quo der Sprache verschoben, weg von der Generizität. Und mein Argument ist nun, dass man auch andersherum wollen kann, nämlich hin zur Generizität. Man kann wollen, die ambigen Formen mögen beide Lesarten haben, je nach Kontext die explizite/spezifische oder eben die generische. Oder man kann sogar wollen, sie mögen überhaupt vor allem generisch sein. Das wäre das genaue Gegenprogramm zum Programm des Genderns. Und wenn ich dieses Programm verfolge – wenn ich also will, dass alle Professoren bedeuten möge: Professoren jeglichen Geschlechts –, dann werden sich auch meine Assoziationen in diese Richtung verändern. Und wenn viele Sprachteilnehmer das wollen, dann wird auch die Semantik des Textkorpus dieser Veränderung nachfolgen. Und in diesem – hypothetischen – Fall würde dann in 20 oder 30 Jahren eine empirische Untersuchung des status quo etwas ganz anderes ergeben als heute, nämlich, dass im Deutschen, um den Titel des Papers aufzugreifen, alle Professoren beliebiges Geschlecht haben.

Deshalb glaube ich nicht, dass empirische Untersuchungen wie diese eine hohe Aussagekraft haben. Sie sagen uns, wie diese oder jene Form verstanden wird, aber sie helfen uns nicht bei der Entscheidung, wie wir diese Formen verstehen wollen – gerade das ist aber für die Richtung des Sprachwandels entscheidend. Dieses aus dem Verstehen-Wollen herkommende voluntaristische Argument wird, soweit ich sehe, in der ganzen Diskussion so gut wie nie berücksichtigt.

Julian Andrej Rott: Ich verstehe, was du meinst. Ich bin auch eine Person, die sich die gendergerechte Sprache selbst beigebracht hat. Aufgewachsen bin ich, wie vermutlich die meisten, mit dem generischen Maskulinum, ab und zu ein Binnen-I. Während des Studiums gab es dann die Form Studierende. Dann erinnere ich mich auch an mittagspäusliche Gespräche mit Kolleg*innen aus meinem Institut, in denen wir uns überlegten, wie man wohl eine gerechte Form für alle am ehesten sprachlich umsetzen könnte. Das liegt gerade erst ein paar Jahre zurück, und dann plötzlich war da die Form mit Sternchen, zunächst nur geschrieben. Und dann kam der Glottisschlag in der gesprochenen Sprache dazu. Ich habe dann angefangen, ganz bewusst, mir das anzutrainieren, weil ich es für absolut sinnvoll hielt und noch immer halte. Das ging zunächst zögerlich, vereinzelt, dann immer besser. Dabei fand ich mich dann recht schnell in einem Feedback-Loop wieder, denn parallel beobachtete ich in meinem Umfeld einen ähnlichen Prozess, der noch immer passiert. Und wenn eine neue Glottisschläger*in dazustieß, war das eine schöne, sehr bestätigende Erfahrung, gerade auch von Menschen, von denen ich das nicht erwartet hätte. Ich könnte mir vorstellen, dass viele eine solche Erfahrung gemacht haben.

Wahrscheinlich wäre es auch möglich, einen solchen Prozess mit dem generischen Maskulinum zu vollziehen: Sich bewusst dazu anzuhalten, diese Form immer gendergerecht zu interpretieren. Wenn man für so ein Unterfangen eine kritische Masse in einer Sprachgemeinschaft erreicht, wäre es sicher machbar, die Bedeutung zu verschieben. Semantischer Wandel passiert konstant, meist ungesteuert, aber gerade bei Begriffen, die bestimmte Gemeinschaften betreffen, gibt es solche ganz willentlich gesteuerten Phänomene. Diverse Schimpfwörter für gesellschaftliche Minderheiten wurden mittlerweile nach dem Motto behandelt Reclaim the word! und in erneuerter Bedeutung von der Allgemeinheit zurück-übernommen. Ein Begriff wie schwul ist (für die meisten) kein Schimpfwort mehr, sondern eine neutrale Bezeichnung.

Der Unterschied ist aber, dass es für all diese Prozesse einen konkreten sprachlichen Angriffspunkt gab. Bei den Beleidigungen ist es ein spezifisches Wort, bei der gendergerechten Sprache eine Endung bei der Wortbildung. Es sind physisch präsente Einheiten, mit denen gearbeitet wird – seien es Schallwellen in der Luft, Tinte auf Papier oder farbige Pixel auf einem Bildschirm. Die Ungerechtigkeit ist gegenwärtig. Bei dem, was du vorschlägst, ist das nicht so. Es gibt dann, außer man möchte es, keinen Anlass dazu, sich mit der Benachteiligung einzelner Gruppen zu beschäftigen. Natürlich kann man unterstellen, die meisten Menschen hätten schon Interesse an einer Verbesserung der Umstände für alle. Ich denke, dass das sogar stimmt. Und viele Verfechter*innen des generischen Maskulinums sagen von sich selbst jetzt schon, dass sie die Form gar nicht rein männlich lesen. Das Problem dabei ist nur: Es gibt dann, außerhalb der Köpfe jeder*s Einzelnen, keine sprachliche Bühne für dieses Bestreben.

„Damit ein Bedeutungswandel erreicht werden kann, braucht es konkrete sprachliche Angriffspunkte.“ – J.A.R.

Ich würde sogar noch weiter gehen: Wenn wir es nicht kenntlich machen, dass uns die Belange benachteiligter Gruppen interessieren, dann haben sie auch keinen Grund, uns zu glauben. Woher sollte ich als nicht-binäre Person wissen, ob ich mitgemeint bin, wenn jemand von Linguisten redet? Selbst wenn es einen großen Diskurs in der Gesellschaft um eine Neuinterpretation des Maskulinums gäbe, ähnlich dazu, wie wir jetzt übers Gendern reden – ich weiß nicht, wie mein Gegenüber es meint, denn ich höre es ihm nicht an. Die Inklusion ist dann nicht mal ein Lippenbekenntnis.

Martin Krohs: Dein Beispiel schwul finde ich sehr gut, denn das ist ja wirklich so ein vorsätzliches reclaim the word! Wir sind uns also erstmal einig, dass Bedeutungen willentlich umgedeutet oder sozusagen umgehört werden können, und ebenso denke ich, dass sich auch grammatikalische Kategorien wie Genus umdeuten lassen. Einmal, weil wir aus Sprachvergleich und -geschichte wissen, wie sehr sie sich wandeln, und dann, weil wir eine solche Umdeutung gerade in Echtzeit beobachten können: Wenn Luise Pusch sagt, ein Ausdruck wie die Kunden benenne nur Männer, dann deutet sie ja eine vormals ambige Form, die eine männliche und eine generische Lesart hatte, in eine nur-männliche Form um. 

Denn diese Nur-Männlichkeit ist ja nicht etwas, das sie nun auf einmal in der Sprache entdeckt hätte, nach der Art: Oh, das haben wir ja vorher gar nicht bemerkt! Sprache ist ja immer deutungsbedürftig. Wenn wir etwa Sprachliches verstehen, dann interpretieren wir es, dann greifen wir spezifische Bedeutungsanlagen auf und verwerfen andere. Und Pusch hat die Anlage männlich aufgegriffen und die Anlage generisch verworfen, und in der Folge hat ein Teil der Sprachcommunity das übernommen und ist zu den Praktiken des Genderns übergegangen.

„Luise Pusch hat die Bedeutungsanlage männlich aufgegriffen und die Anlage generisch verworfen.“ – M.K.

Man hätte eben auch den anderen Pfad einschlagen können, und man hätte dabei mit dem generisch-verstehen-Wollen sogar genauso radikal sein können wie Pusch mit ihrem männlich-verstehen-Wollen. Man hätte sagen können: Nein, wir wollen eine Form wie „die Kunden“ überhaupt nicht mehr männlich verstehen, sondern nur noch generisch! Das wäre ja völlig naheliegend, denn auch Adjektive haben im Deutschen im Plural kein Genus (kluge Linguisten, kluge Linguistinnen – ganz egal) und Pluraliatantum wie Leute oder Eltern ebenfalls nicht. Und wenn man das macht, dann braucht man die weiblichen Pluralformen gar nicht mehr, denn eine Form wie Kunden ist ja eh bereits für alle da. Ein Satz wie Im Supermarkt sind gerade 40 Kunden – 20 männliche Kunden und 20 weibliche Kunden wäre dann völlig normal.

Und die Frage, die du eben am Schluss formuliert hast: Woher sollte ich als nicht-binäre Person wissen, ob ich mitgemeint bin, wenn jemand von Linguisten redet? – die müsstest du dann gar nicht mehr stellen. Der ganze Einwand des „nur-Mitmeinens“ würde überhaupt hinfällig. Denn Linguisten meint dann immer alle Geschlechter, genauso wie Leute oder Eltern immer alle meint.

Natürlich müsste man sich weiter fragen, was so ein generischer Plural dann für den Singular bedeutet. Aber worauf ich erstmal hinaus will: Wir sind da in eine falsche Richtung abgebogen mit unserer, ich nenne es mal Wollens-Steuerung der Sprache. Der Witz ist ja, dass beide Richtungen die Sprache gerechter gemacht hätten, nur der Aufwand an sprachlichen Eingriffen wäre bei der Gegenvariante zu Pusch viel geringer gewesen. Wir könnten uns dieses ganze Gezerre um Sternchen, Binnen-Is und Glottisschläge sparen.

Du sagst jetzt aber, wenn man dem Weg des generisch-Machens oder als-generisch-verstehen-Wollens gefolgt wäre, dann hätte das dem Anliegen der Inklusion nicht genutzt, weil man ihm keine Bühne gegeben hätte. Das kann ich nicht nachvollziehen. Warum ist es für dich so wichtig, dass die Anliegen der Inklusion an den einzelnen Wörtern sichtbar gemacht werden? Ist es nicht viel wichtiger, sie in der Sache sichtbar zu machen und die Sprache dann mit ihnen kompatibel zu halten?

Julian Andrej Rott: Du nennst da direkt am Anfang deiner Antwort einen ganz wichtigen Aspekt, der, denke ich, auch mit deiner Frage zu tun hat: Dass man grammatikalische Kategorien genauso wie Wörter umhören könne. Das sehe ich etwas anders. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Elementen der Grammatik und Wörtern, also lexikalischen Formen. Letztere sind greifbar, sie haben eine ganz spezifische Bedeutung und referieren gerade im Falle der Personenbezeichnungen auf etwas Konkretes in der Welt. Genus ist als Baustein der Grammatik dagegen etwas Abstraktes und nur ein Bedeutungsanteil. Mehr noch: Es ist eine Eigenschaft von Substantiven und allen dazugehörigen Wortarten, die wir immer mitdenken, wenn wir sie benutzen. Es fließt ganz von selbst in unsere Sprachverwendung und unser Verstehen ein. Das macht es viel schwerer, sprachplanerisch mit grammatikalischen Kategorien zu arbeiten, denn es ist quasi unterbewusst. Die Lösung, die du vorschlägst, ist also gar keine einfachere, sondern eigentlich mit noch mehr individueller Mühe verbunden, weil es überhaupt keine gegenständliche Stütze gibt, die einen beim Sprechen zum Umdenken anhält. Als Sinnbild: Ich könnte einen gebrochenen Arm auch gesund werden lassen, indem ich ihn selbstständig absolut ruhig halte – die Position für die schnellstmögliche Knochenheilung ist ja eine, die mein Arm von sich aus schon einnehmen kann. Aber ohne den unterstützenden Gips werde ich das vermutlich nicht kontinuierlich genug machen, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Ich gebe dir recht, dass durch Pusch und viele weitere Feminist*innen ein Fokus auf das Genus gelegt wird, der einen solchen Prozess vielleicht erleichtern könnte. Aber das Ergebnis ihrer Arbeit ist nicht wirklich eine Uminterpretation in dem Sinne, wie du sie vorschlägst. Sie haben die Bedeutung von Wörtern wie Doktoren oder Köche nicht aktiv dahingehend verändert, dass man dabei plötzlich nur noch an Männer denkt. Was sie getan haben, ist, auf die schon bestehende Ungleichheit hinzuweisen, die sich durch die Doppelbedeutung der Maskulina ergab: generisch für alle und spezifisch für Männer. Dass es jetzt zu einer Bedeutungsverschiebung kommt, passiert doch gerade deshalb, weil es jetzt neue Formen gibt, die wirklich generisch sind. Die generische Funktion wird auf neue sprachliche Formen übertragen und hinterlässt die Maskulina spezifisch. Das Umhören passiert im Nachgang zum Umsprechen.

„Der Widerstand gegen die jetzige Form des Genderns ist symptomatisch für eine zugrundeliegende Trägheit, die Rechte von Frauen und nicht-binären Menschen als bedeutsam zu erachten.“ – J.A.R.

Vielleicht ist jetzt auch klarer, warum ich es wichtig finde, die Inklusion an den einzelnen Wörtern sichtbar zu machen. Du sprichst davon, die Gleichberechtigung in der Sache sichtbar zu machen und die Sprache kompatibel zu halten – und ich muss mich fragen, wie das gewährleistet werden kann angesichts der sprachlichen und auch außersprachlichen Tatsachen. Natürlich wäre es großartig, könnten wir einfach an einer semantischen Stellschraube drehen und auf einmal an alle gleich stark gendergerecht denken. Du sagtest ja eingangs, der kognitive status quo, den Pusch und andere anmahnen, spiele weniger eine Rolle als das kollektive Wollen. Aber wie stellst du dir das konkret vor? Wo genau ist dann die Signalwirkung, wo der Impuls, der dieses Wollen auch zu mentalen Taten werden lässt? Möglicherweise interpretieren wir die außersprachlichen Gegebenheiten hier auch unterschiedlich, aber für mich ist der Widerstand gegen die jetzige Form des Genderns nicht ausschließlich ein Problem mit der gewählten sprachlichen Form, sondern auch symptomatisch für eine zugrundeliegende Trägheit, die Rechte von Frauen und nicht-binären Menschen als bedeutsam zu erachten. Und da hilft ein zugegeben sehr schönes Gedankenexperiment, das auf einer bequemen, individualisierten Beseitigung der Diskriminierung fußt, nicht wirklich weiter.

Martin Krohs: Wir kommen gerade, denke ich, dem Dissens näher, der uns trennt. Ganz konkret kann man ihn hieran festmachen: Du sagst, Pusch und andere hätten die Bedeutung von Wörtern wie Doktoren oder Köche nicht aktiv so verändert, dass man plötzlich nur noch oder vor allem an Männer denkt. Doch, genau das haben sie getan! Sie haben eben nicht nur auf eine bestehende Ungleichheit hingewiesen, sondern sie haben das, worin man eine Ungleichheit sehen konnte – worin man aber auch eine Technik der Gleichheit hätte sehen können – als eine de facto existierende Ungleichheit ausgegeben. Ich überspitze das ein bisschen, ich weiß, aber gestatte mir das, damit mein Punkt ganz klar wird. 

In der Zeit vor Pusch – vereinfacht gesagt – war es eine Selbstverständlichkeit, dass Doktoren oder Köche Personen jeglichen Geschlechts sein können. Niemand wäre überhaupt etwas anderes in den Sinn gekommen. Oder nimm die Anrede in einem geschriebenen Text: liebe Leser. Oder sogar: lieber Leser. Es war einfach klar, dass diese Formen in diesem Kontext generisch sind.

Und nun kommt Pusch und sagt: Ha! Das ist aber doch eine Maskulin-Endung! Und deshalb sind das Formen, die nur Männer bezeichnen können, und die Frauen bleiben außen vor! 

Und weil sich das in eine absolut notwendige, absolut begrüßenswerte soziale, emanzipatorische Agenda einschreibt, für die man sinnvollerweise empfänglich ist, sagt man: Ah ja klar, natürlich! Gut dass das mal jemand auffällt, das ist ja fürchterlich androzentrisch. Aber es wird jetzt erst wirklich androzentrisch! Weil von den vielen Bedeutungsoptionen, die jede Wortform mit sich bringt, auf einmal nur noch eine Teilmenge gehört wird. Die scheinbare objektive Diagnose ist in Wirklichkeit eine self fulfilling prophecy

„Nicht der Gebrauch des einzelnen Worts darf politisch sein. Was politisch ist, das sind Argumente, Debatten, Gesetze – die Rede ist politisch.“ – M.K.

Und es geschieht genau das, wovon du sagst, dass es nicht geht: Der Teil der Sprachgemeinschaft, der sich Puschs Verstehensweise anschließt, beginnt, eine ganze funktionale Kategorie, nämlich das Genus, umzuhören. Genus, das zuvor etwas Hybrides, schwer Definierbares war, ein innersprachlicher Stifter von Kongruenz mit gelegentlicher geschlechtsindizierender Funktion, wird nun auf einmal streng mit Sexus identifiziert. Genus wird remotiviert als Sexus. Und damit geht der Schlamassel los. Denn nun muss Genus plötzlich immer und überall auf die allerpräziseste Art und Weise mit dem Geschlecht der gemeinten Person übereinstimmen. Eine regelrechte Genus-Sexus-Pedanterie setzt ein. Und zwar nur, weil die Verstehensweise von Genus verändert wurde, was wieder Resultat eines So-Hören-Wollens ist, das sich seinerseits einem außersprachlichen, sozialreformatorischen Programm verdankt. Die Kategorie Genus folgt in ihrer Entwicklung dem wollenden Ohr! Und dass das funktioniert, zeigt sich an Reaktionen wie der meines Bekannten, der in alten Büchern plötzlich nur noch Männer sieht. Wie bitte, was steht da geschrieben, geneigter Leser? Aber hat der Autor denn alle Frauen vergessen?

Was uns beide trennt in dieser Diskussion, das ist, würde ich sagen, eigentlich viel mehr als nur unsere unterschiedliche Modellbildung zum Sprachwandel. Uns trennt auch eine ganz unterschiedliche Konzeption des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit überhaupt, oder ich sage mal etwas mutiger: zwischen Sprache und Politik. Für dich ist Sprache Politik. Du willst mit sprachlichen Mitteln etwas Politisches bewirken. Ich will im Gegenteil die Sprache von Politik freihalten. Ich meine, Sprache ist dafür da – außer, sagen wir mal, dass man in ihr auch Gedichte schreiben kann – Politik zu verhandeln. Ja, natürlich müssen wir politisch sprechen! Aber nicht der Gebrauch des einzelnen Worts darf politisch sein, erst recht nicht der einer einzigen Wortendung. Was politisch ist, das sind Aussagen, Argumente, Appelle, Debatten, Verfügungen, Gesetze – die Rede ist politisch, der Text ist politisch! Wenn wir das einzelne Wort politisch machen, dann zerstören wir sogar die politischen Fähigkeiten der Sprache. Denn dann haben wir genau das, was derzeit passiert: Dass, noch bevor die Aussage überhaupt gemacht wird, das politische Signal bereits gegeben ist. Die politischen Kräfte drehen leer und auf der Stelle, anstatt aufeinander einzuwirken. Das hilft auch der Sache der Minderheiten nicht.

Julian Andrej Rott: Ich denke, mit dieser Beobachtung zu unseren verschiedenen Perspektiven liegst du richtig. In deiner Darstellung wurde, wenn ich sie jetzt auch nochmal überspitzt zusammenfasse, die Sprache erst politisiert, als die feministische Linguistik begann, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Als hätten wir zuvor eher neutrale Begriffe gehabt, die unabhängig vom sozioökonomischen Kampf um Gleichberechtigung der Frauen in einer sprachlichen Sphäre existierten und dann bedauerlicherweise vom Sog der Debatte erfasst wurden. Ich sehe es eher so, dass Sprache als ein großes, identitätsstiftendes Merkmal von Gesellschaften immer schon ganz unmittelbar mit den realen Gegebenheiten ihrer Sprecher*innenschaft verbunden war. Sprache ist von Politik nicht freizuhalten: Vor Beginn der Debatte wurde eine Anrede wie lieber Leser sicherlich als normal empfunden, da gehe ich mit. Aber normal heißt nicht neutral. Normal heißt gemäß der üblichen Verhältnisse  – und die waren unverkennbar sexistisch, ich denke, da sind wir uns einig.

„Sprache als großes, identitätsstiftendes Merkmal von Gesellschaften war immer schon ganz unmittelbar mit den realen Gegebenheiten ihrer Sprecher*innenschaft verbunden.“ – J.A.R.

Natürlich ist Sprechen an sich unter so einer Sichtweise ein politischer Akt. Ich sehe absolut die Schwierigkeit dabei, die du auch aufzeigst. Wenn die Grundbausteine des Diskurses an sich schon zum Streitpunkt werden, dann kommt man kaum mehr dazu, über die Sache an sich zu sprechen. Im Unterschied zu dir aber denke ich, dass das ein guter, chancenreicher Zustand ist und auch kein ewigwährender. Wir schauen uns als Gesellschaft gerade unser wichtigstes politisches Werkzeug an – die Sprache. Dabei wird klar, dass seine Bauart nicht mehr auf die Mechanismen passen, mit denen wir unsere Lebensrealität gestalten wollen. Das Werkzeug ist veraltet, und wir befinden uns jetzt in einer Phase der Erneuerung. Diese verkompliziert sich dadurch, dass wir bei laufendem Betrieb renovieren müssen, und diesen Druck spürt man gerade sehr deutlich. Aber ich persönlich halte viel lieber eine etwas wackelige Phase des Umbruchs aus, als mich damit zu begnügen, Altes neu anzustreichen. 

Martin Krohs/Julian Andrej Rott: Wir könnten diesen Disput sicher lange fortführen. Und zwar entlang beider Linien, die er jetzt eingeschlagen hat, im Anschluss an die Frage nach der Aussagekraft empirischer Untersuchungen für die Problematik des Genderns. Wir könnten das Verhältnis von Sprache und Politik weiter diskutieren, und M.K. würde auf die letzte Replik von J.A.R entgegnen: „Dir ist also die Sprach-Politik wichtiger als die praktische, reale Politik, die Politik-Politik?“ Worauf J.A.R. antworten würde: „Nein, aber ich sehe diese beiden Dinge als untrennbar verbunden und die queerfeministische Spracharbeit als wichtige Antriebskraft.“ – Und ebenso könnten wir die Fragen von Wortgebrauch und Sprachwandel weiter fortführen. Sollten wir die Sprache geschlechtlich präziser machen oder im Gegenteil geschlechtlich unpräziser? Welche Wortformen würden jeweils zur Verfügung stehen, welche Möglichkeiten würden sie bieten, welche Probleme würden sie aufwerfen?

Klar ist aber jetzt bereits, dass unsere Positionen und Herangehensweisen, ja sogar unsere Grundkonzeptionen davon, was Sprache ist und was sie soll, miteinander so gut wie unvereinbar sind. Wir vermuten, dass das in der Sprachgemeinschaft als Ganzes nicht viel anders aussieht: Das Trennende reicht weit über einzelne grammatische Streitfälle hinaus.

Trotz alledem sind wir beiden Diskutant*innen/Diskutanten uns in manchen Dingen überraschend einig. Wir sind beide überzeugt, dass wir uns derzeit in einem überaus spannenden, interessanten, vielversprechenden Moment der (Sprach-)Geschichte befinden. Es liegen die verschiedensten Optionen auf dem Tisch – manche werden bereits aktiv praktiziert, andere scheinen (zunächst?) in den Hintergrund zu treten, mit wieder anderen wird in kleinen Sprecher-/Sprecher*innen-Gruppen ausgiebig experimentiert, abseits von der großen Öffentlichkeit. Und auch wer das Potenzial zu mehr Gerechtigkeit im Bisherigen findet, treibt diesen Prozess unweigerlich mit voran. Denn in der Tat: Unser Reden wird bei laufendem Betrieb verändert, auf der Suche nach der tauglichsten Art und Weise, gut miteinander sprachlich umzugehen. Wieviel Wandel lassen wir stattfinden, wie schnell soll er gehen, wohin wird er führen?


Julian Andrej Rott ist Linguist*in mit Schwerpunkt Typologie und Morphologie. Weitere Forschungsinteressen sind Sprachverarbeitung, Sprachwandel, extralinguistische Spracheinflüsse und Phänomene an der Schnittstelle zwischen Wortform und Bedeutung. 

Martin Krohs ist Philosoph, seine Fachgebiete sind Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und politische Philosophie.

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Als generisches Maskulinum wird der Usus bezeichnet, grammatisch maskulin markierte Formen als Oberbegriff für Menschen unabhängig ihres Geschlechts zu verwenden.

Das Genus oder deutsch das grammatische Geschlecht ist eine besonders auffällige Kategorie des deutschen Sprachsystems, da es die Substantive betrifft und Substantive diejenigen Wörter sind, mit denen wir die Dinge beim Namen nennen. Die Genera des Deutschen sind das Femininum, Maskulinum und Neutrum.

Gemeint ist der Glottisschlag, ein Knacklaut, durch den das Suffix „Innen“ phonetisch abgesetzt wird.

Dominic Schmitz verwendet in seiner Untersuchung „explizit“ für diejenigen Formen, die grammatisch maskulin oder feminin sind und dann auch ausdrücklich Männer bzw. Frauen meinen.

Als Voluntarismus (von lat. voluntas, Wille) werden Auffassungen und Theorien bezeichnet, in denen das Wollen der jeweiligen Akteure eine besondere, hervorgehobene Rolle spielt.

Pluraliatantum (Lateinisch plurale tantum „nur Plural“) sind Wörter, die ausschließlich in der Mehrzahl existieren. Im Deutschen sind das z.B. Geschwister, Ferien, Kosten, Spesen, Masern. Eine Einzahlform kann manchmal durch Bildung eines zusammengesetzten Wortes nachempfunden werden, wie z.B. Geschwisterteil, Ferientag, Kostenpunkt, etc.

androzentrisch: das Männliche (gr. andros, Mann) in den Mittelpunkt stellend.

Kongruenz (von lat. congruentia „Übereinstimmung“) bezeichnet die Übereinstimmung zusammengehöriger Satzteile in grammatischen Merkmalen. Im Deutschen umfasst die Kongruenz die Kategorien Kasus (Fall), Numerus (Zahl) und Genus (sprachl. Geschlecht).

Remotivierung bezeichnet die Belegung einer schon bestehenden sprachlichen Struktur mit einer neuen Bedeutung. Ihre Existenz wird neu motiviert und sie bekommt eine neue Funktion.

„Generizität“ bezeichnet generell die Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke, für ganze Klassen von Gegenständen oder Personen verwendbar zu sein, im Unterschied zur spezifischen Referenz auf ein konkretes Objekt. Im Rahmen der Diskussion um Sprache und Geschlecht ist die geschlechtsunspezifische Verwendung gemeint.

ambig: mehrdeutig, zwei oder mehrere Deutungsmöglichkeiten eröffnend.

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Gutes Streitgespräch.

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Das sind interessante Argumentationslinien. Mir gefällt die folgende Zusammenfassung:

Was uns beide trennt in dieser Diskussion, das ist, würde ich sagen, eigentlich viel mehr als nur unsere unterschiedliche Modellbildung zum Sprachwandel. Uns trennt auch eine ganz unterschiedliche Konzeption des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit überhaupt, oder ich sage mal etwas mutiger: zwischen Sprache und Politik. Für dich ist Sprache Politik. Du willst mit sprachlichen Mitteln etwas Politisches bewirken. Ich will im Gegenteil die Sprache von Politik freihalten. … Aber nicht der Gebrauch des einzelnen Worts darf politisch sein, erst recht nicht der einer einzigen Wortendung. Was politisch ist, das sind Aussagen, Argumente, Appelle, Debatten, Verfügungen, Gesetze – die Rede ist politisch, der Text ist politisch! Wenn wir das einzelne Wort politisch machen, dann zerstören wir sogar die politischen Fähigkeiten der Sprache.”


Und jetzt stelle ich mir die Frage, wer hat eigentlich Interesse an einer derart spalterischen, den positionenübergreifenden Diskurs mindestens erschwerenden Vorgehensweise?
Meine Vermutung ist, es gibt Interessengruppen die verhindern wollen, dass Kernfragen zu gesellschaftlichen Verhältnissen mit Fokus auf Veränderung überhaupt diskutiert werden und zu Mehrheiten kommen. Deshalb haben sie einen größeren Teil der intellektuellen Elite in diese Scheindebatte gejagt - divide et impera!

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“Interessante Argumentationslinien” – das hören wir gern! Ich versuche, Ihren Punkt weiter zu ergründen. Ich verstehe Sie so, dass Sie den Verdacht formulieren: Konservative Interessengruppen, die eine Agenda der gesellschaftlichen Transformation (in Richtung besserer Anerkenntnis von Nicht-Binarität zum Beispiel) behindern wollen, lassen statt dessen auf sprachlicher Ebene die Puppen tanzen, als Ersatz oder Ablenkung?

Wenn es so wäre, dann müsste man sich natürlich fragen: Ist dann die konservative Aufregung über “Geder-Gaga-Sprache” auch nur fingiert (damit die Scheindebatte schön am Laufen bleibt)? Und wie würde das zusammengehen damit, dass non-binary-Aktivisten ja selbst die Debatte um die Sprache befeuern, weil sie dem Sprachwandel eine Pionierfunktion für den sozialen Wandel zuschreiben?

Ich finde Ihren Punkt intellektuell interessant, ich glaube aber (wenn ich ihn richtig verstehe), dass die Realität viel einfacher ist. Die Aktivisten wollen in der Tat das Sprachlich-Politische akzentuieren und setzen auf die sozialen Effekte der Sprachinnovation.

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Sie haben meinen Punkt nur teilweise korrekt aufgenommen.
Ich argumentiere, konservative Interessengruppen, die eine gesellschaftliche Transformation in Richtung besserer Teilhabe aller Gruppen und gerechterer ökonomischer Verhältnisse behindern wollen haben das Gender Sprachthema in den Vordergrund geschoben - und zwar sowohl auf der Seite der Aktivisten als auch ihrer Gegner. Ich vermute, diese Entwicklung wurde (primär und zuerst in den USA) von Dritten initiiert oder befördert und dabei geht es nicht um Sprache und Identität an sich sondern um Ablenkung von den Grundlagen der Macht und der Ökonomie.

Diese Diskussion bindet Kräfte, lenkt von wichtigeren Fragen ab und zerstört, wie Sie oben selbst schreiben, die politischen Fähigkeiten der Sprache also die Chance auf substantiellen Dialog. Dies passiert auch, weil jeder mit einer entsprechenen (Gender- oder nicht Gender-)Sprache gleich eine massive konfrontative Botschaft an seinen Gegenüber sendet.
Letztendlich ist die gesamte Debatte um Identitäten Zeugnis einer übersteigerten Individualisierung und Ich-Kultur. Wenn die Menschheit als Gesellschaft überleben soll, müsste jeder seine Individualität etwas in den Hintergrund schieben und das Gemeinsame und gemeinsame Interessen in den Vordergrund der Diskussion und des Handelns stellen.

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In Grossen und Ganzen scheint mir dann aber doch, dass wir beide Ihren Punkt so formulieren, wie Sie ihn auch meinten. Ich hatte “sprachlich die Puppen tanzen lassen” geschrieben, Sie schreiben “haben das Gender Sprachthema in den Vordergrund geschoben” – das meinte ich mit meinen “Puppen”.

Ich sehe es ja ebenso wie Sie, dass die Sprachdebatte die Transformation eher hindert als befördert, diesen Satz von Ihnen würde ich auch unterschreiben: “Dies passiert auch, weil jeder mit einer entsprechenen (Gender- oder nicht Gender-)Sprache gleich eine massive konfrontative Botschaft an seinen Gegenüber sendet.”

Ich frage mich aber weiter, wer diese Dritten sein könnten. Soweit ich die Anliegen der Sprachreformer (der “Genderer”) kenne, geht es ihnen wirklich um das, was sie als Botschaft formulieren, also den politischen Effekt des Sprechens. Dann gäbe es keine Dritten, jedenfalls sehe nicht nicht, wer sie sein könnten. Vielleicht kann ja @julian_andrej_rott hier noch einen Blick von innen beisteuern.

Mit der Frage, ob eine Ich-Kultur die Konsensfähigkeit untergräbt, sind wir dann ja in der soziologischen Dimension der Problematik. Einerseits ist der “normative Individualismus” die Grundlage unserer liberalen Gesellschaften. Andererseits kann er, wenn er an ein rigides Gerechtigkeitsprinzip gekoppelt wird wie derzeit, diese Gesellschaften selbst auch leicht zersplittern.

Mich erinnert das ein wenig an die Tragedy of the commons aus den Wirtschaftswissenschaften: Das “unkonfrontativ-miteinander-sprechen-Können” ist ein Gemeingut, auf das wir alle angewiesen sind, aber Player mit starken Partikularinteressen wollen es nicht erstellen bzw. untergraben seine Erstellung. Das Kollektiv könnte damit die Genderer beschuldigen, sich antisozial zu verhalten, genauso wie die Genderer das Kollektiv der Ungerechtigkeit ihnen gegenüber beschuldigen können.

Wir beackern mit dem Sprechen sozusagen alle einen gemeinsamen Garten, von dem wir uns auch ernähren, in dem aber andererseits auch jeder sein eigenes Pflänzchen züchten kann. Die Frage ist, wie sich das ganze Biotop dann verändert – was wird tatsächlich wuchern, und was bleibt einfach in seinem Eckchen?

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Für mich handelt es sich hier eben nicht um eine Scheindebatte, um eine Ablenkung von wichtigeren Fragen oder ein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Hier geht es ganz konkret um das Wohl mehrerer Gruppierungen in den Gesellschaften der Welt. Es geht um das Wohl von Frauen und trans/nicht-binären Personen, also Menschen, die derzeit in vielen Teilen der Welt politisch und sozial benachteiligt werden. In der Bundesrepublik schleppt sich die Gesetzesänderung zum vom Transsexuellengesetz zum Selbstbestimmungsgesetz dahin, in den USA wird die körperliche Selbstbestimmung von Personen mit Uterus aktiv untergraben, in Polen gibt es noch immer “LGBT-ideologiefreie” Zonen. Dies sind nur drei Beispiele von unzähligen. Sicherlich sind all diese und die vielen weiteren Probleme nicht über eine sprachliche Sichtbarmachung allein zu lösen, aber diese kann als Symbol fungieren, sie erhöht die Sichtbarkeit und sie normalisiert - mindestens über die Zeit hinweg - die Gegenwart dieser Menschen in allen Lebensbereichen. Das erschwert es meines Erachtens, sie als Unbekannte, und damit als Projektionsfläche zu sehen. Deswegen setzt die Sprache ein wichtiges Zeichen, ob in Form eines Gendersternchens oder anderweitig.

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