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Julian Andrej Rott stellt vor:

Psycholinguistic approaches to the investigation of grammatical gender

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Psycholinguistic approaches to the investigation of grammatical gender

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 16.12.2022

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/ppwa-wj88

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 16.12.2022
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/ppwa-wj88

Die sprachliche Hauptverantwortung für Gendergerechtigkeit liegt in der Kategorie des grammatischen Geschlechts. Weil das Deutsche Maskulinum, Femininum und Neutrum unterscheidet, sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, ob überhaupt eines davon für alle stehen kann. Was hat es mit dem Genus überhaupt auf sich, was leistet es in unserem Sprachsystem, und wie machen andere Sprachen das? Der Psycholinguist Niels O. Schiller gibt in diesem Buchkapitel einige experimentelle Antworten.

Genus ist eine Kategorie, die sich in vielen Sprachen der Welt findet, aber lange nicht in allen. Wenn die Grammatik einer Sprache diesen Unterschied jedoch mitbringt, dann kommt er in ganz unterschiedlicher Gestalt daher. Die global häufigste Ausprägung sind zwei Genera (allerdings nicht immer Maskulinum vs. Femininum, sondern auch Binaritäten wie menschlich vs. nicht menschlich oder lebendig vs. nicht-lebendig). Deutsch ist mit seinen drei Genera Maskulinum, Femininum und Neutrum ein recht typischer Vertreter unter den indo-europäischen Sprachen. Aber auch zwischen fünfzehn und zwanzig grammatische Geschlechter sind in einigen Sprachen nachgewiesen.1 Genus ist also nicht einfach das sprachliche Abbild einer vermeintlich naturgegebenen Geschlechterordnung, sondern die Kategorie wird von jeder Sprache individuell den Dingen in der Welt zugeordnet.

Aber warum arbeiten so viele Sprachen überhaupt mit Genus? Dieser Frage widmen sich Forschende verschiedener linguistischer Teildisziplinen. Historische Ansätze beschäftigen sich damit, wie solche Systeme entstehen. Die Typologie katalogisiert die Muster weltweit und versucht aus diesen allgemeine Prinzipien der menschlichen Sprache abzuleiten. Eine dritte, relativ junge Perspektive bietet die Psycholinguistik, die sich seit den 1950ern mit der Funktionsweise von Sprache in unserem Gehirn und Geist befasst. Im Rahmen der Debatte um gendergerechte Sprache ist sie die sprachwissenschaftliche Teildisziplin, die am stärksten bemüht wird. Allem voran zitiert wird dabei Forschung zu den Geschlechtsassoziationen, die bestimmte Substantive wie z.B. Berufsbezeichnungen hervorrufen –  also z.B. ob man bei einem generischen Maskulinum wirklich eher an Männer denkt. Bevor wir uns diesen Studien in den kommenden Wochen näher widmen, schauen wir uns zum Einstieg an, wie der sprachliche Kern der Problematik, das grammatikalische Geschlecht, überhaupt im Gehirn funktioniert und wie sich die Psycholinguistik ihm annähert.

Psycholinguistische Ansätze gehen unter die Oberfläche des Bewussten und stellen dazu unser Sprachzentrum mit präzise abgestimmten Experimenten vor besonders schwierige Aufgaben. Häufig wird gemessen, wie lange Teilnehmer*innen unter verschiedenen Bedingungen für eine bestimmte Reaktion, wie z.B. einen Knopfdruck oder das Benennen eines Gegenstandes brauchen. Die Grundannahmen dabei sind: Erstens, je länger das Gehirn für die Aufgabe benötigt, desto weniger rund läuft der Prozess. Und zweitens, um die Parameter eines Sprachsystems zu erkunden, schaut man am besten dorthin, wo sein regulärer Betrieb ins Straucheln gerät. Denn wenn man versteht, warum es hakt, hat man Hinweise darauf, wie es funktioniert.

Mit einem solchen Vorhaben begegnet Niels O. Schiller, Professor für Psycholinguistik an der Universität Leiden, der Frage: Welche Rolle spielt das Genus von Wörtern beim Sprechen und Hören? In den Experimenten sahen die Teilnehmenden Bilder von Gegenständen und gleichzeitig ein ausgeschriebenes Ablenkerwort. In Sprachen wie Deutsch (drei Genera: Maskulinum, Femininum, Neutrum) und Niederländisch (zwei Genera: Utrum, Neutrum) konnten solche Studien zeigen, dass es leichter ist, das Objekt zu benennen, wenn man gleichzeitig ein Wort desselben Genus vor sich hat. Hat das Wort ein anderes Genus, verlangsamt das die Wortfindung.

„Der Tisch“ zu sagen, während man das feminine Wort „Glocke“ liest – eine schwierige Aufgabe für unser Gehirn. Leichter geht es, wenn das Genus beider Wörter übereinstimmt, wie bei „die Gabel“ und „Hose“.

Dieser so genannte gender congruency effect zeigt: Das Genus von Substantiven beeinflusst unmittelbar das Verstehen. Genus ist also eine Informationsquelle, die den Zugriff auf die Einträge des mentalen Lexikons mitsteuert.2 

Doch überraschenderweise gilt dies nicht immer: Für romanische Sprachen wie Italienisch, Spanisch, Katalanisch und Französisch (allesamt zwei Genera: Maskulinum und Femininum) lässt sich kein vergleichbarer Effekt finden. Auch im Bosnisch-Serbisch-Kroatischen (drei Genera wie im Deutschen) gibt es den Effekt sogar nur manchmal – und das, obwohl slawische Sprachen sehr stark vom Genus geprägt sind. Wenn die Kategorie für das mentale Lexikon also doch so wichtig ist, wie kann dies sein?

In den zitierten Experimenten ließen die Forschenden ihre Proband*innen die Wörter häufig nicht als einzelne Wörter benennen, sondern z.B. mit Artikel: der Tisch, de tafel, la mesa, il tavolo, la table etc. Ein zentraler Unterschied zwischen den romanischen Sprachen gegenüber den germanischen und slawischen ist, dass sich Wörter wie der bestimmte Artikel in den romanischen Sprachen charakteristisch verändern, je nachdem, wie das nachfolgende Substantiv klingt. Im Französischen etwa verschmelzen le und la zu l', wenn das Substantiv mit einem Vokal beginnt: le soleil ‚die Sonne‘, aber le + oiseau = l'oiseau ‚der Vogel‘. Im Deutschen dagegen bleibt es bei der, die, das, komme substantivisch was wolle. Genau so im Niederländischen: de und het bleiben unerschütterlich.

Für Sprecher*innen der romanischen Sprachen beginnt die Produktion – die Vorbereitung zum Sprechen – also minimal später, da der Artikel noch auf den Wortanfang des Substantivs warten muss, um sich ihm anzupassen.3 Im Deutschen und Niederländischen wird der Artikel gesetzt, sobald die nötigen Informationen (Genus und Numerus sowie im Deutschen noch Kasus) für das Substantiv aus dem mentalen Lexikon abgerufen sind. Die Form des Wortes steht dann fest, es kann nichts mehr passieren.

Warum haben romanische Sprachen keinen gender congruency effect? Oder haben sie ihn vielleicht doch, aber er wird durch die zusätzliche Wartezeit beim Artikel verdeckt? Das wäre eine mögliche Interpretation, die dem Genus seinen hohen Rang lassen würde – wäre da nicht noch der Fall der Bosnisch-Serbisch-Kroatischen-Sprachen. Hier zeigt die Forschung, dass die Sprache beides in sich vereint: Manchmal wird wie im Germanischen die Wortproduktion durch das Genus gleichzeitig wahrgenommener Wörter behindert, manchmal haben die Ablenkerwörter, wie im Romanischen, keinen messbaren Einfluss. Die Bosnisch-Serbisch-Kroatischen-Sprachen zeigen den Effekt nur, wenn in ihrer Benennung ein Pronomen wie ihn oder sie vorkommt – z.B. in einem Satz wie ich sehe ihn für ein Bild von einem Tisch, während das Wort Glocke auf dem Bildschirm erscheint. Wenn sie statt des Satzes mit Pronomen etwas sagen sollen wie mein Tisch, lief alles ohne Verzögerung.4 Gibt es den Effekt also nur manchmal? Und wenn ja, wann? Es ist vertrackt mit dem Genus in unseren Köpfen. 

Um das Rätsel zu lösen, stellt Schiller noch drei eigene Experimente an: eins auf Deutsch, zwei auf Niederländisch. Mit ähnlichen Aufgaben testet er die Sprecher*innen beider Sprachen auf den Effekt mit unbestimmtem Artikel (ein Tisch, een tafel) und für das Niederländische noch mit besitzanzeigenden Pronomen, entsprechend zum Experiment mit den Bosnisch-Serbisch-Kroatischen-Sprachen (mijn tafel). Und siehe da: kein gender congruency effect, obwohl er ansonsten in den beiden Sprachen sehr robust nachgewiesen wurde.

Was heißt das alles nun?

Schiller schließt daraus, dass Genus nicht immer so wichtig ist wie ursprünglich gedacht. Wenn Wortformen wie Artikel stark von ihrem Substantiv abhängen, weil es eine lautliche Anpassung geben muss, oder Genus nur in einer grammatischen Endung auftaucht wie bei ein vs. ein-e, dann gibt es keine Störeffekte. Diese Information kommt automatisch mit dem dazugehörigen Substantiv mit. Nur wenn wir vollständige Wörter aus unserem mentalen Lexikon holen müssen, beruft sich unser Sprachsystem auf das Genus, und widerstrebende Informationen werden zum Problem. Das passiert bei Substantiven, denn die sind immer ganze Wörter, aber auch bei bestimmten Artikeln des Deutschen und Niederländischen, die je nach Genus völlig unterschiedlich aussehen (der vs. die vs. das, bzw. de vs. het). 

Anders gesagt: Der Wettkampf der grammatischen Geschlechter spielt sich nicht im grammatischen System ab, sondern im mentalen Lexikon. Genus ist eine Kategorie, auf die sich unser Gehirn während der komplexen und unaufhörlichen Aufgabe der Sprachverwendung stützt. Je nach Sprachsystem und je nach Satzstruktur genießt es dabei unterschiedlichen Stellenwert. Niemals jedoch oberste Priorität.

Fußnoten
4

„Nigerian Fula is exceptional, having around twenty genders, depending on the dialect (Arnott 1967; 1970: 67-75; Koval´ 1979; Breedveld 1995: 295-460). Other large systems can be found in Papua New Guinea, where Mountain Arapesh has 13 genders (Fortune 1942; Aronoff 1994: 89-114; Fraser and Corbett 1997). In northern Australia too, Ngan’gityemerri arguably has 15 genders (Reid 1997).“ Greville G. Corbett: Number of Genders. In: Matthew S. Dryer, Martin Haspelmath (Hrsg.): The World Atlas of Language Structures Online. Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology, Leipzig 2013.

Genus ist aber natürlich nicht die einzige Eigenschaft von Wörtern, die hierzu im Stande sind. Andere wichtige Faktoren sind z.B. lautliche Ähnlichkeit oder eine eng verwandte Bedeutung.

Wir befinden uns hier im ein- bis zweistelligen Millisekundenbereich. Also nichts, was im alltäglichen Sprachgebrauch auffällt oder gar hinderlich wäre.

Den Satz vidim ga ‚ich sehe ihn‘ zu sagen, geht schneller, wenn man dazu ein Bild von einem stol ‚Tisch‘ sieht, der ebenfalls ein Maskulinum ist. Sieht man stattdessen gleichzeitig ein Bild einer femininen truba ‚Trompete‘, dauert es ein Stückchen länger. Umgekehrt ist vidim je ‚ich sehe sie‘ mit dem Tisch schwierig, mit der Trompete leicht. Diese stehen dann im Gegensatz zu Strukturen, wo ganz wie im Italienischen, Französischen usw. keine Spur des Effekts zu finden ist: beispielsweise bei Sätzen mit besitzanzeigenden Pronomen wie moj ‚mein‘, wo das Genus nur als Endung zutage tritt. Hier war ja der Gedanke in den romanischen Sprachen, dass in der kurzen Zeit, bis das Nomen mit seinem Anlaut kommt, der Effekt des Genus verlischt. Das Problem ist nur: In den Bosnisch-Serbisch-Kroatischen-Sprachen fällt nichts weg, egal mit welchem Laut das nachfolgende Substantiv anfängt: moja truba ‚meine Trompete‘, moja igra ‚mein Spiel‘. Es gibt also keine Wartezeit, aber trotzdem auch keinen gender congruency effect.

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