Brasiliens Präsident Lula da Silva ist aktiv bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine. Seine Äußerungen, wonach die Europäische Union (EU), die USA und auch der ukrainische Präsident für den Krieg mitverantwortlich seien, sorgten für scharfe Kritik aus den USA. Wie verhält sich Lulas demonstrative Weigerung, die Ukraine zu unterstützen, zu den außenpolitischen Prinzipien Brasiliens?
Wenig überraschend – so muss die Antwort ausfallen, wenn man den bereits 2012 publizierten Artikel der Politikwissenschaftlerin Miriam Gomes Saraiva zu Rate zieht. Lula bleibe sowohl dem traditionellen Verständnis von Brasiliens Rolle in der Welt als auch seiner bereits 2003 eingeschlagenen außenpolitischen Linie treu.
Saraiva zufolge tendiert die brasilianische Außenpolitik zur Kontinuität. Diese werde dadurch gewährleistet, dass das brasilianische Außenministerium seit Jahrzehnten dafür zuständig sei, außenpolitische Prinzipien auszuarbeiten und Entscheidungsprozesse zu steuern. Hierzu gehöre die Überzeugung, dass Brasilien dazu bestimmt sei, in der internationalen Politik eine Großmacht zu werden. Diese Idee könne bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Zwei weitere Konzepte, so Saraiva, die in darauffolgenden Jahren die Entwicklung der brasilianischen Außenpolitik geprägt haben, sind das der Autonomie und des Universalismus.
Brasiliens außenpolitische Positionen seien dabei von zwei Denkschulen beeinflusst, die seit den 1990er Jahren existieren: eine pragmatisch-institutionelle
Als Lula 2003 an die Macht kam, hätten die pragmatischen Institutionalisten aus der vorherigen Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2003) die Formulierung der Außenpolitik an die Autonomisten übergeben, die damit zur wichtigsten außenpolitischen Gruppe wurden. Wie Saraiva zeigt, hat sich den Autonomisten eine weitere Gruppe angeschlossen, die aus Wissenschaftlern und führenden Politikern, vor allem aus der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT), bestehe. Während der ersten Präsidentschaft Lulas hätten sie angefangen, zunehmend Einfluss auf die außenpolitischen Entscheidungen auszuüben.
In dieser neuen Konstellation wiesen das Streben Brasiliens nach globalem Prestige und der Einsatz der Außenpolitik als Mittel zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklung auf Kontinuität hin. Gleichzeitig sei es durch die neue Allianz aus den Autonomisten im Außenministerium und der PT zu einem Wandel der brasilianischen Außenpolitik gekommen. Seitdem strebe man eine möglichst große Vielfalt an außenpolitischen Partnern an, betone die Autonomie des eigenen Handelns und untermauere den proklamierten Universalismus durch Süd-Süd-Kooperationen. Insbesondere die Idee, andere aufstrebende oder ärmere Länder des Südens ins Boot zu holen, um ein Gegengewicht zum Westen zu schaffen, diente laut Saraiva als Grundlage der neuen Außenpolitik.
Wie die Politikwissenschaftlerin in ihrem Text ausführt, hat die brasilianische Diplomatie in ihrem Bestreben, ein globaler Akteur zu werden, den Kontakt zu den europäischen Ländern aufrechterhalten, während sie jede Art von Allianz mit den Vereinigten Staaten ausschloss. Im Mai 2007 wurde eine strategische Partnerschaft zwischen Brasilien und der EU unterzeichnet. Doch die anfänglich großen Erwartungen der brasilianischen Politiker an die EU als potenziellen Partner seien mit der Zeit einer skeptischen Sichtweise gewichen. Als Beispiel nennt die Autorin das unterschiedliche Abstimmungsverhalten Brasiliens und der europäischen Länder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über weitere Sanktionen gegen den Iran im Jahr 2010. Noch größere Dissonanzen gibt es seit Jahren bei Handelsfragen.
Ferner unterscheide sich die brasilianische Diplomatie, so Saraiva, deutlich von jener der EU, wenn es um die Wahrnehmung der aktuellen Weltordnung gehe. So sei die EU vor allem an der Erhaltung des Status quo der internationalen Institutionen interessiert. Außerdem neige sie in den meisten globalen Angelegenheiten, insbesondere in Krisenzeiten, dazu, eine Allianz mit den USA einzugehen. Brasilien hingegen setze auf eine stärkere Interaktion innerhalb der
Zwar wird Brasilien zurecht als eine der größten Demokratien der Welt bezeichnet. Wie aus der Analyse Saraivas allerdings hervorgeht, heißt diese Tatsache nicht zwingend, dass der südamerikanische Riese außenpolitisch mit den westlichen liberalen Demokratien immer an einem Strang zieht. Das Land hat einen anderen Blick auf die globale Ordnung. Wie die neutrale Position Brasiliens im Krieg in der Ukraine sowohl unter der Regierung Lula als auch unter seinem Vorgänger Jair Bolsonaro zeigt, hat Brasilien vor allem das langfristige Ziel vor Augen, eine größere globale Präsenz mittels ökonomischem Wachstum und außenpolitischer Autonomie zu erreichen.