Russlands Invasion war vermeidbar

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Joseph Nye2022
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Russlands Invasion war vermeidbar

»What caused the Ukraine War?«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 01.03.2023

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 01.03.2023

Fast ein Jahr nach Russlands Überfall auf die Ukraine hält die Debatte über die Ursachen an. Der US-Politikwissenschaftler Joseph Nye betrachtet es als hilfreich, zwischen unmittelbaren, mittelfristigen und tieferen Ursachen zu unterscheiden. Doch selbst wenn jeder dieser Faktoren auf seine Weise eine Rolle spiele, sei ein Ausbruch des Krieges nicht unvermeidbar gewesen.

Die Entstehung und der Verlauf des Ukraine-Krieges werden häufig mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges verglichen, über deren Ursachen Historiker/innen bis heute diskutieren.1 Der Politikwissenschaftler Joseph Nye sieht die Ähnlichkeit darin begründet, dass beide Kriege mehr als nur eine Kausalebene haben und beide bis zu ihrem Ausbruch vermeidbar waren. 

Um Kriegsdynamiken zu erklären, schlägt Nye vor, zwischen tieferen, mittelfristigen und unmittelbaren Ursachen zu unterscheiden. Seine Idee veranschaulicht der Autor mithilfe einer Lagerfeuer-Metapher: Das Aufschichten der Holzscheite ist eine tiefe Ursache, das Hinzufügen von Anzündholz und Papier ist eine Zwischenursache und das Anzünden eines Streichholzes ist der unmittelbare Auslöser. Aber selbst dann sei das Entzünden des Feuers nicht unvermeidlich. Ein starker Wind kann das Streichholz ausblasen oder ein plötzlicher Regenschauer das Holz durchnässen – es können also Reaktionen anderer Akteure und Zufälle entscheidend sein.  

In der Ukraine, so Nye, habe Putin ganz klar das Streichholz entzündet, als er am 24. Februar 2022 den Einmarsch der russischen Truppen befahl. Das war der unmittelbare Auslöser für den Krieg. Wie die Großmächte im Jahr 1914 schien Putin zu glauben, dass es sich um einen kurzen Krieg mit einem schnellen Sieg handeln würde, ähnlich wie bei der Niederschlagung der Aufstände in Budapest durch die Sowjetunion im Jahr 1956 oder in Prag im Jahr 1968

Zu den mittelfristigen Ursachen zählt Nye vor allem die Intention, die Ukraine in die sogenannte „russische Welt“ zurückzuholen, und die Weigerung Putins, sie als einen souveränen Staat anzuerkennen. Außerdem hatte sich die Ukraine in Putins Augen undankbar gezeigt, als mit dem Maidan-Aufstand 2014 eine prorussische Regierung abgesetzt und eine stärkere Bindung an die Europäische Union angestrebt wurde.2 Die Schwäche der westlichen Sanktionen, die auf die Annexion der Krim im Jahr 2014 folgten, hätte Putin suggeriert, dass er im Falle einer Intervention keine gravierenden Konsequenzen zu fürchten brauche. 

Die Nato-Erweiterung betrachtet der Autor dagegen als weniger wichtig, womit er seinem Kollegen John Mearsheimer und dem Journalisten Branko Marcetic widerspricht, die die  Kriegsursachen ganz klar in den Fehlern des Westens und der Nato-Osterweiterung sehen. Nye schreibt, dass der Nato-Beschluss von 2008 in Bukarest, die Ukraine und Georgien als potenzielle künftige Mitglieder aufzunehmen, Putins schlimmste Erwartungen an den Westen zwar bestätigt habe. Doch zeigte Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 20073, dass er bereits vor Bukarest eine ablehnende Haltung gegenüber dem Westen eingenommen hatte.

Tiefere Ursachen hinter Putins Verhalten sind laut Nye der Zerfall der Sowjetunion und die Erfahrungen der stürmischen 1990er Jahre4 in Russland. 

Nyes These ist im Ergebnis, dass der Krieg in der Ukraine trotz allem nicht unvermeidlich war, mit der Zeit aber immer wahrscheinlicher wurde. Leider macht er keine weiteren Aussagen darüber, warum der Krieg trotz seiner Vermeidbarkeit ausgebrochen ist. Ebenso fehlen tiefergehende Überlegungen zu möglichen Alternativen für den am 24. Februar 2022 entzündeten Flächenbrand in der Ukraine. Sein Text fordert jedoch dazu heraus, eine differenziertere Kausalanalyse vorzunehmen.

Fußnoten
4

Zu den bekanntesten Werken gehört das Buch „Die Schlafwandler“ des australischen Historikers Christopher Clark aus dem Jahr 2012. Es hebt die außerordentliche Komplexität der Krise, die zum Krieg führte, hervor und zeichnet die vielschichtigen und teilweise intransparenten Entscheidungsprozesse der involvierten Mächte nach. Im selben Jahr erschien ein weiteres Werk: David Stevenson, 1914-1918: The History of the First World War, 2012, Penguin. In dieser umfassenden Analyse untersucht David Stevenson die Ursachen, den Verlauf und die Auswirkungen des Krieges, indem er ihn in den Kontext seiner Zeit stellt und die ihm zugrunde liegende Dynamik aufzeigt.

Das thematisiert Putin u.a. in seinem am 12. Juli 2021 erschienenen Artikel mit dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Darin legt er ausführlich seine persönliche Position dar, bewertet den damaligen Stand der Beziehungen und äußert sein Bedauern über deren Verschlechterung. U.a. schreibt er, dass die Russische Föderation viel getan habe, um der Ukraine zu helfen, ein unabhängiges Land zu werden, indem es die Ukraine z.B. in den schwierigen 1990er Jahren mit niedrigen Gaspreisen sehr unterstützt habe. Die ukrainischen Eliten hätten aber beschlossen, die Unabhängigkeit ihres Landes zu rechtfertigen, indem sie seine Vergangenheit leugneten. S. vollständigen Text unter: http://kremlin.ru/events/president/news/66181

In seiner Rede unterstellte Putin den USA das Streben nach Weltherrschaft und warnte die Nato vor „ungezügelter Militäranwendung“. Nato und Europäische Union würden anderen Ländern ihren Willen aufzwingen und auf Gewalt setzen, so Putin. Die Nato-Osterweiterung kritisierte er auch damals schon massiv.

Die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern vielfach Kriminalität und Armut.

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Dieses Narrativ war hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) an ethnische Russen und Russinnen sowie russischsprachige Menschen gerichtet. Erstens stellte man sich die „russische Welt“ als eine natürlich existierende zivilisatorische Gemeinschaft vor. Die zentralen Merkmale waren eher kultureller als ethnischer Natur: die russische Sprache, das orthodoxe Christentum und die russische Kultur im weiteren Sinne. Zweitens stützte sich die konstruierte Identität der „russischen Welt“ auf eine bestimmte Interpretation der „gemeinsamen“ Vergangenheit  – die Vorstellung von den gemeinsamen Ursprüngen der heute getrennten Staaten. Drittens konstruierte die Erzählung von der „russischen Welt“ eine hierarchische Beziehung zwischen Russland und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft.

Am 23. Oktober 1956 entwickelte sich aus Studentenprotesten in Budapest ein landesweiter Volksaufstand gegen das kommunistische Regime. Am 4. November intervenierte die Sowjetunion und ließ die Proteste blutig niederschlagen.

Am 21. August 1968 marschierte das Militär aus der Sowjetunion, Bulgarien, Ungarn, Polen mit insgesamt einer halben Million Soldaten in Prag ein und beendete innerhalb von wenigen Stunden gewaltsam die reformkommunistische Bewegung des „Prager Frühlings“ in der damaligen ČSSR.

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