Kelemens und McNamaras Beitrag steht im Kontext einer jahrzehntelangen Debatte, die mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine neue Aktualität erfahren hat. Im Kern geht es um drei Fragen: Kann die europäische Integration als Staatsbildungsprozess beschrieben werden? Fehlt der EU für die Herausbildung eines funktionierenden Staates nicht eine entscheidende sicherheitspolitische Komponente? Und: Führt der Krieg an den Toren Europas dazu, dass sich die EU nun mit quasi-staatlichen Kapazitäten ausstattet?
Die EU, so die beiden Autoren, zeichne sich durch eine spezifische Unausgewogenheit ihrer Entwicklung aus. Sie verfüge zwar über ein hochgradig differenziertes und funktionierendes Rechtssystem, das nicht nur nach innen, sondern auch international Standards setzt.
Um die Schieflage zwischen erfolgreicher Verrechtlichung auf der einen und fehlenden Kapazitäten auf der anderen Seite zu erklären, greifen Kelemen und McNamara auf die klassische Staatsbildungsliteratur zurück. Diese habe vor allem zwei „makrohistorische Prozesse“ identifiziert, die die Herausbildung von Staaten historisch bedingt haben: einerseits Integration über einen gemeinsamen Markt, der Verrechtlichung und stabile Institutionen notwendig mache; andererseits Integration über die Notwendigkeit zur Zentralisierung von Macht und Kapazitäten in Anbetracht von kriegerischen Bedrohungen. Schaue man sich die Geschichte der europäischen Integration seit dem Zweiten Weltkrieg an, bilanzieren Kelemen und McNamara, so werde die einseitige Marktintegration deutlich, der keine kriegsbedingte Schaffung von Kapazitäten gegenüberstehe.
Gegen das von Kelemen und McNamara vertretene Argument, der EU fehle es an bestimmten Kapazitäten für einen funktionierenden Staatsapparat, wird immer wieder Kritik vorgebracht. Zum einen verstecke sich hinter dem Argument der vermeintliche Normalfall des europäischen Nationalstaats, wie er sich seit der Frühen Neuzeit herausgebildet habe. Dass die EU ein Gebilde sui generis, also ganz eigener Natur sei, könne mit der Staatsbildungsliteratur à la Tilly gar nicht gefasst werden. Auch gebe es außerhalb Europas zahlreiche staatsähnliche Gebilde, die durchaus funktionsfähig seien, aber den Annahmen dieser Schule entgegenliefen. Zum anderen richtet sich die Kritik gegen die implizite Annahme, zur Vervollständigung eines jeden Staatsbildungsprozesses brauche es eine kriegerische Bedrohung. Wie andere Forschende zeigen, haben in der Vergangenheit allerdings nicht Kriege, sondern grenzüberschreitende Krisen die europäische Integration vorangetrieben.
Hinter der wissenschaftlichen Debatte steht letztendlich auch die normative Frage, was die EU sein soll.