Warum die EU kein Superstaat ist

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Daniel Kelemen, Kathleen McNamara2022

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/w9pf-qf04

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/w9pf-qf04

Rechtsstaatlichkeit und starke Institutionen, aber keine harten fiskalischen und politischen Kapazitäten: Das ist die landläufige Sicht auf die Europäische Union. Die Politikwissenschaftler Daniel Kelemen und Kathleen McNamara haben für diese schiefe Entwicklung eine Erklärung: Die europäische Integration sei bisher hauptsächlich Markt- und nicht Sicherheitsimperativen gefolgt. Der Staatlichkeit der EU fehle die kriegerische Bedrohung von außen.

Kelemens und McNamaras Beitrag steht im Kontext einer jahrzehntelangen Debatte, die mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine neue Aktualität erfahren hat. Im Kern geht es um drei Fragen: Kann die europäische Integration als Staatsbildungsprozess beschrieben werden? Fehlt der EU für die Herausbildung eines funktionierenden Staates nicht eine entscheidende sicherheitspolitische Komponente? Und: Führt der Krieg an den Toren Europas dazu, dass sich die EU nun mit quasi-staatlichen Kapazitäten ausstattet?1

Die EU, so die beiden Autoren, zeichne sich durch eine spezifische Unausgewogenheit ihrer Entwicklung aus. Sie verfüge zwar über ein hochgradig differenziertes und funktionierendes Rechtssystem, das nicht nur nach innen, sondern auch international Standards setzt.2 Gleichzeitig fehlten jedoch eigene fiskalische Kapazitäten, eine mit Hoheitskompetenzen ausgestattete Verwaltung sowie die Möglichkeit, auch auf Zwangskapazitäten, beispielsweise zur Eintreibung eigener Steuern, zurückzugreifen. Im Vergleich zu anderen staatsähnlichen Gebilden mache dieses Ungleichgewicht die EU „dysfunktional“, was sich in der Unfähigkeit äußere, die vielen Krisen der vergangenen Jahre nachhaltig zu lösen.

Um die Schieflage zwischen erfolgreicher Verrechtlichung auf der einen und fehlenden Kapazitäten auf der anderen Seite zu erklären, greifen Kelemen und McNamara auf die klassische Staatsbildungsliteratur zurück. Diese habe vor allem zwei „makrohistorische Prozesse“ identifiziert, die die Herausbildung von Staaten historisch bedingt haben: einerseits Integration über einen gemeinsamen Markt, der Verrechtlichung und stabile Institutionen notwendig mache; andererseits Integration über die Notwendigkeit zur Zentralisierung von Macht und Kapazitäten in Anbetracht von kriegerischen Bedrohungen. Schaue man sich die Geschichte der europäischen Integration seit dem Zweiten Weltkrieg an, bilanzieren Kelemen und McNamara, so werde die einseitige Marktintegration deutlich, der keine kriegsbedingte Schaffung von Kapazitäten gegenüberstehe.

Gegen das von Kelemen und McNamara vertretene Argument, der EU fehle es an bestimmten Kapazitäten für einen funktionierenden Staatsapparat, wird immer wieder Kritik vorgebracht. Zum einen verstecke sich hinter dem Argument der vermeintliche Normalfall des europäischen Nationalstaats, wie er sich seit der Frühen Neuzeit herausgebildet habe. Dass die EU ein Gebilde sui generis, also ganz eigener Natur sei, könne mit der Staatsbildungsliteratur à la Tilly gar nicht gefasst werden. Auch gebe es außerhalb Europas zahlreiche staatsähnliche Gebilde, die durchaus funktionsfähig seien, aber den Annahmen dieser Schule entgegenliefen. Zum anderen richtet sich die Kritik gegen die implizite Annahme, zur Vervollständigung eines jeden Staatsbildungsprozesses brauche es eine kriegerische Bedrohung. Wie andere Forschende zeigen, haben in der Vergangenheit allerdings nicht Kriege, sondern grenzüberschreitende Krisen die europäische Integration vorangetrieben.3 Wie im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine, können diese Krisen militärisch sein. Das ist aber keineswegs zwangsläufig, wie die Integrationsfortschritte im Zuge der Euro-, Migrations- oder Covid-Krisen zeigen würden.

Hinter der wissenschaftlichen Debatte steht letztendlich auch die normative Frage, was die EU sein soll.4 Ist sie auf dem Weg zu einer staatlichen Struktur, die den europäischen Nationalstaaten gleicht? Oder liegen ihre Stärken gerade darin, Schwächen der Nationalstaaten auszugleichen?

Fußnoten
4

Christian Freudlsperger und Frank Schimmelfennig: Rebordering Europe in the Ukraine War. Community building without capacity building. In: West European Politics. Band 46, Nr. 5 2023, S. 843–871. 10.1080/01402382.2022.2145542

Anu Bradford: The Brussels Effect. How the European Union Rules the World. Oxford University Press, New York 2020, ISBN 9780190088606.

Christian Freudlsperger und Frank Schimmelfennig: Transboundary crises and political development. Why war is not necessary for European state-building. In: Journal of European Public Policy. Band 29, Nr. 12, 2022, S. 1871–1884. 10.1080/13501763.2022.2141822 

Catherine E. de Vries: How Foundational Narratives Shape European Union Politics. In: JCMS: Journal of Common Market Studies. Online-Veröffentlichung, 27. November 2022. 10.1111/jcms.13441

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