Georgiy Kasianov ist derzeit Professor an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin, wo er zu Theorien der Nationenbildung und der Geschichte der Ukraine forscht. Sein 2022 erschienenes Buch Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine ist eine facettenreiche Studie ukrainischer Erinnerungspolitik, die, wie Katja Makhotina in ihrer Rezension schreibt, noch lange als Standardwerk für diesen Themenbereich gelten wird. Eine Monographie, die den Zeitrahmen von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart abdeckt, gab es bisher noch nicht.
Kasianovs Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten beschäftigt er sich mit einer allgemeinen Betrachtung westeuropäischer, osteuropäischer und postsowjetischer Erinnerungskulturen. Der zweite Teil ist den Akteuren der Erinnerung in der Ukraine gewidmet: Hier untersucht Kasianov primär, welche Rolle der Staat, nichtstaatliche Organisationen und Historiker spielen. Bemerkenswert ist, dass Kasianov sich selbst bewusst zu den Akteuren der Erinnerung zählt. Mit seinen Überlegungen und Anregungen zur Erinnerungskultur trat der Autor an die Öffentlichkeit und erfuhr aufgrund seiner Kritik am Status quo der ukrainischen Erinnerungskultur Hass, Beleidigung und Bedrohung. Höhepunkt und Sinnbild dieser Ablehnung Kasianovs durch Teile der ukrainischen Öffentlichkeit und Politik ist der Eklat über seine Teilnahme an einem Seminar der
Für Georgiy Kasianov ist Geschichtspolitik – das (Aus-)Nutzen von Geschichte für politische Zwecke – ein uraltes Phänomen. Seit es Geschichtsschreibung gibt, werde diese von politischen Führungseliten für eigene Zwecke verwendet. Dennoch ruft er hier zu einer Differenzierung auf: Geschichtspolitik in der Moderne unterscheide sich fundamental von ihren antiken Prototypen, da sie in ihrem heutigen Ausmaß ein Produkt der Industrialisierung und Nationalisierung ist. Diese epistemologische Prämisse, mit der Kasianov an die Untersuchung von Erinnerungskultur und Nationalismus tritt, ist weitestgehender Konsens in der Nationalismusforschung. Benedict Andersons Standardwerk Imagined Communities (1983) stellt genau diese Genealogie von Nation und Erinnerung dar.
In der Ukraine dominiere, so Kasianov, ein exkludierendes Modell der Erinnerung, welches ein homogenes Geschichtsbild konstruiert und bekräftigt. In diesem exklusiven Rahmen gebe es zwei Modelle, die miteinander konkurrieren: das nationale/nationalistische und das sowjetnostalgische/imperialnostalgische Narrativ. Merkmal solcher Narrative sei, dass sie eine homogene (National-)Identität schaffen wollen, die alles, was nicht dem Ideal entspricht, marginalisiert, eliminiert oder assimiliert. Unerwünschte historische Figuren und Ereignisse werden verdrängt und man grenzt sich aktiv von dem Anderen, dem Fremden, ab. Je nach Geographie sei das bevorzugte Narrativ jedoch verschieden: Im Westen der Ukraine, vor allem in Galizien, wo auch die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiv war, dominiere das nationale/nationalistische Narrativ. In der Ostukraine und der Krim hingegen, die russophon geprägt waren und derzeit unter russischer Besatzung stehen, dominiere das sowjetnostalgische Narrativ.
Ein Ereignis mit einer Sonderstellung, das weder in das nationalistische noch das sowjetnostalgische Narrativ passt, ist der Holocaust. Dieser nehme in Osteuropa eine periphere Rolle ein, denn im Fokus der Region stehen die Traumata des Stalinismus und der sowjetischen Herrschaft. Die Verdrängung des Holocaust sei unter anderem damit zu erklären, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten in Osteuropa auch auf Kollaboration angewiesen waren. Sich der Geschichte des Holocaust zu stellen, würde auch bedeuten, sich der Geschichte der eigenen Mittäterschaft zu stellen. Dies passe nicht in das Selbstbild der Opferrolle vieler postsowjetischer Staaten Osteuropas. In der Ukraine fand der Holocaust spät Eintritt in die Erinnerungslandschaft: Kasianov merkt an, dass es die Gründung von bildungspolitischen NGOs Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre war, die die Auseinandersetzung mit der Thematik förderte. Die ersten Holocaust-Museen (1996 in Kharkiv, 2009 in Odessa) wurden denn auch durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Spendenkampagnen errichtet. Seitens des Staates hingegen wurde der Holocaust in der Ukraine lange vernachlässligt und viele Ukrainer würden sich weigern, ihn als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen, so Kasianov.
Ein Punkt, mit dem Kasianov sich ausführlich auseinandersetzt, ist die Nationalisierung der Geschichte. Das Meisternarrativ der Nationalisierung in der Ukraine ist für Kasianov das der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit: Die gesamte Geschichte des Landes wird als Geschichte eines Kampfes gegen Fremdherrschaft dargestellt. Gerade in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit sei die Geschichte der Ukraine als eine endlose Kette von Leid, Herausforderungen und Überlebenskämpfen erzählt worden, so Kasianov. Im Fokus dieses Narrativs stünden vor allem die
In ihrer Rezension zu Memory Crash schreibt Katja Makhotina, dass Kasianov auf eine kluge und gelungene Art die ethno-nationalistischen Erinnerungsnarrative in der Ukraine kritisch hinterfragt, ohne dass damit die Souveränität des Landes in Frage gestellt wird, wie es der russische Präsident Putin seit Jahren tue. Kasianovs Expertise und seine umfangreiche kritische Analyse ukrainischer Erinnerungskulturen auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene, wie sie vorher noch nie da war, machen das Buch zu einem Meilenstein im Feld der Memory Studies.