Die Analyse der beiden Politikwissenschaftler beruht auf öffentlichen Meinungsumfragen, die im Zeitraum von 2011 bis 2018 in Algerien, Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien durchgeführt wurden. Ziel war es, das Demokratieverständnis in diesen Ländern nach den Massendemonstrationen des
Abbott und Teti kritisieren den einseitigen Fokus der EU auf institutionelle Reformen in den Ländern Nordafrikas. Denn an den Antworten der Befragten lasse sich ein tieferes, sozialeres Demokratieverständnis ablesen, als es die EU mit ihrem neoliberalen Verständnis von Demokratie vertrete.
Die Umfrageergebnisse zeigen zudem weitere interessante Erkenntnisse: Beispielsweise gehe es den befragten Menschen weniger um die Art des aktuellen politischen Systems, solange dieses Sicherheit, Stabilität und soziale Gerechtigkeit gewährleistet. Dass die Regierungen Nordafrikas dabei gescheitert sind, diese Güter bereitzustellen, hätten die Massendemonstrationen des Arabischen Frühlings gezeigt.
Abbotts und Tetis Kritik am Umgang der EU mit ihren Nachbarn ist nachvollziehbar und berechtigt. Gleichzeitig wird nicht klar, ob sich das Demokratieverständnis der EU tatsächlich substanziell oder lediglich graduell von dem unterscheidet, was sich die Gesellschaften der untersuchten Länder wünschen. Diese Ambivalenz zeigen die Autor:innen selbst an der Rolle auf, die Religion in den jeweiligen Definitionen von Demokratie spielt: Während dem Demokratiebild der EU
Interessant ist dennoch das Ergebnis, dass in allen untersuchten Ländern die befragten Menschen der Meinung waren, religiöse Führer sollten beispielsweise Wahlen nicht beeinflussen. Religion und Demokratie schlössen sich somit nicht zwingend gegenseitig aus, wie oftmals in wissenschaftlichen Beiträgen dargestellt, die fehlende Säkularität mit mangelnder Rationalität gleichstellen und somit als Barriere zu mehr Demokratie sehen.
Abbott und Teti zufolge zeigen die erhobenen Daten, weshalb die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) in der Region in den Jahren vor und nach dem Arabischen Frühling maßgeblich zu einem schlechten Bild der EU in nordafrikanischen Gesellschaften beigetragen habe. Die ENP basiere auf einem Selbstbild der EU, das eine Hierarchie und normative Überlegenheit gegenüber den Partnerländern impliziere. Zudem hätten es sich die autoritären und oft korrupten Regierungen Nordafrikas zu eigen gemacht, die Anforderungen der EU scheinbar zu erfüllen, um finanzielle Mittel zu erhalten. Der Umstand, dass die EU ebendiese Regierungen – in der Hoffnung auf demokratische Reformen – über Jahre finanziell unterstützt habe, verstärke die Animositäten nordafrikanischer Gesellschaften gegenüber der EU weiter.
Abbotts und Tetis Analyse liefert eine interessante, wenn auch nicht wirklich überraschende Erkenntnis: Die EU habe auch nach den Demonstrationen des Arabischen Frühlings weder ihre Ziele noch ihre Prozesse der Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten angepasst. Zwar habe man erkannt, dass frühere Strategien die Wünsche der Bevölkerungen nicht ausreichend berücksichtigten und die EU stattdessen autoritäre Regierungen unterstützte. Ein Umdenken im eigenen Verhalten sei dennoch nicht zu beobachten gewesen. Diese Schlussfolgerung gliedert sich in die langjährige Kritik an der Demokratieförderung der EU ein. Die schlussendliche Erfolglosigkeit des Arabischen Frühlings, ließe sich Abbotts und Tetis Kritik erweitern, ist auch ein Zeugnis für das Scheitern der EU, eigene Politiken und Strategien an neue Realitäten anzupassen.