Die EU und ihre Meistererzählungen

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Catherine De Vries2022
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Die EU und ihre Meistererzählungen

»How Foundational Narratives Shape European Union Politics«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 29.06.2023

te.ma DOI 10.57964/cv8n-dq53

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 29.06.2023
te.ma DOI 10.57964/cv8n-dq53

Der Politikwissenschaftlerin Catherine De Vries zufolge beruht die Europäische Union auf vier Meistererzählungen über sich selbst, die die europäische Integration wahlweise als Friedens-, Krisen-, Wirtschafts- oder Verrechtlichungsprojekt darstellen. Die Relevanz dieser Erzählungen beschränke sich nicht auf die Interpretation der Vergangenheit, sie schüfen auch die Bahnen, in denen sich die aktuelle Politik in Europa bewege – und müssten deshalb neu diskutiert werden.

Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine müsse man einen kritischeren Blick auf die Gründungsnarrative der EU werfen, so Catherine De Vries. Denn der Krieg stelle diese infrage: Nicht nur sei die Hoffnung auf ein friedliches Nachkriegseuropa erschüttert worden. Auch die Vorstellung, die europäisch-russischen Wirtschaftsverflechtungen und ein Netz diplomatischer Abkommen würden militärische Wege der Konfliktaustragung verunmöglichen, habe sich nicht bewahrheitet. Schließlich sei zudem unklar, ob die Krise in der Ukraine auch zu neuen Fortschritten bei der europäischen Integration beitrage oder nicht gar regressive Konsequenzen nach sich ziehe.

Dass Staaten, Organisationen oder allgemein Gruppen Gründungsnarrative und Meistererzählungen haben, ist dabei nichts EU-spezifisches, sondern ein globales Phänomen.1 Diese Narrative sind meist ortsspezifisch und bestehen aus identitätsprägenden Geschichten, die helfen eine Gemeinschaft zu imaginieren. Meist transportieren sie zudem bestimmte Werte und ideologische Inhalte.2 Für De Vries gehören auch die Vorstellungen, die sich Eliten und Gesellschaften über die politische Ordnung machen, zur narrativen Konstruktion der Wirklichkeit”.3 Somit erstrecke sich die Wirkmächtigkeit von Gründungsmythen, obwohl sie im Falle der EU mehr als 70 Jahre zurückreichen, bis in die Zukunft. Denn sie strukturierten die als möglich erachteten politischen Strategien vor.

Die vier von De Vries identifizierten Meistererzählungen hätten jedoch blinde Flecken, die den Blick auf die notwendigen Reformen in der EU verstellen würden. Das Friedensnarrativ etwa sieht die EU als Lerneffekt aus den Schrecken des Weltkriegs. Dabei werde jedoch ausgeblendet, dass europäische Staaten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts koloniale Herrschaftspraktiken verteidigten, etwa Frankreich in Algerien oder Portugal in Angola. Zum anderen würden mit diesem Narrativ die verschiedenen Perspektiven auf die EU in den Mitgliedstaaten ignoriert, die sich nicht auf ein Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg reduzieren ließen.4 Während dies für Teile der deutschen Gesellschaft zutreffen mag, würden andere Länder die EU vielmehr als Demokratisierungs-, Wohlstands- oder Sicherheitsprojekt wahrnehmen.

Auch das Krisennarrativ, das die institutionelle Stärkung der Union durch die Bewältigung von Krisen betont, verkenne, dass Integrationsfortschritte in der Folge keineswegs zwangsläufig sind. Und sollten sie tatsächlich eintreten, können sie hochgradig ungleich ausfallen. In der EU-Forschung wird dies als Differenzierung statt vertiefte Integration bzw. Gleichzeitigkeit von Integration und Desintegration bezeichnet.5 Zwar scheint beispielsweise die Eurokrise „gelöst“, allerdings massiv zuungunsten der südeuropäischen Mitgliedstaaten, die immer noch mit den Auswirkungen des Wirtschaftseinbruchs nach der Globalen Finanzkrise zu tun haben.6 

Damit verbunden ist auch die Erschütterung des Verflechtungsnarrativs, also die Hoffnung, dass insbesondere durch vertiefte Handelsbeziehungen Frieden und eine gewisse Angleichung der politischen Kulturen in Europa erreicht würden. Wie die Beziehungen zwischen den Nord- und Südländern der Eurozone oder die EU-Russland-Beziehungen verdeutlichen, habe wirtschaftliche Verflechtung jedoch weder intern noch extern zu einer nachhaltigen politischen Befriedung geführt.7 Während sich die Brüche innerhalb der EU in Form des Erstarkens rechtskonservativer und populistischer Parteien äußerten, habe Russlands Invasion der Ukraine die Vorstellung von „Wandel durch Handel“ begraben.8 

Schlussendlich, so de Vries, führe auch das Verrechtlichungsnarrativ, also die Idee, das Recht ersetze politische Konflikte, in die Irre. Zwar stimme es, dass die EU aufgrund der Notwendigkeiten des ausgeprägten Binnenmarkts durch ein tief integriertes Justiz- und Institutionengefüge gekennzeichnet sei. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums habe tatsächlich ein starkes europäisches Rechtssystem entstehen lassen. Allerdings sei die Vorstellung, dass Verrechtlichung die Austragung harter Interessenkonflikte überflüssig mache, abwegig. De Vries weist darauf hin, dass auch die vermeintlich neutrale Regulierung der EU Gewinner und Verlierer produziere. Große Unternehmen etwa, die den europäischen Markt dominieren, würden versuchen, ihre Macht auch politisch zu nutzen, kleinere Unternehmen und marginalisierte Gruppen hingegen ihren Unmut vor allem in den nationalen Politikarenen kundtun. Die Lösung, schlägt der Politikwissenschaftler Simon Hix vor, liege nicht zwangsläufig in mehr Gesetzen, sondern einer Politisierung und Demokratisierung der EU.9

Während oft über die institutionellen und geopolitischen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für die EU diskutiert wird, macht De Vries’ Intervention auf die diskursive Dimension der europäischen Einigung aufmerksam. Die vier Meistererzählungen der EU über sich selbst sind Teil der „normativen Macht“ Europa, wie sie von Politikern dargestellt und von Wissenschaftlern kritisiert worden ist.10 Geopolitische Überlegungen, die mit der eröffneten Perspektive einer ukrainischen EU-Mitgliedschaft an Bedeutung gewonnen haben, liegen hingegen quer zum normativen Selbstverständnis der EU. Die zukünftige Herausforderung besteht für die EU darin, die geopolitischen Anforderungen von außen sowie den eigenen internen Reformbedarf mit den von De Vries beschriebenen Gründungsnarrativen in Einklang zu bringen.

Fußnoten
10

Sandra Heinen (Hrsg.): Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 9783110222432.

Gabriele Pisarz Ramirez: Foundational Discourses. In: Wilfried Raussert et al. (Hrsg.). The Routledge Handbook to the Culture and Media of the Americas. Routledge imprint of Taylor & Francis Group, London, New York, NY 2020, ISBN 9781351064705, S. 86–98.

Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 21. Auflage. Fischer Taschenbuch-Verl., Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-596-26623-8.

Juan Díez Medrano: Framing Europe. Attitudes to European Integration in Germany, Spain, and the United Kingdom. Princeton University Press, Princeton, NJ 2003, ISBN 9780691146508.

Frank Schimmelfennig, Dirk Leuffen und Berthold Rittberger: The European Union as a system of differentiated integration. Interdependence, politicization and differentiation. In: Journal of European Public Policy. Band 22, Nr. 6, 2015, S. 764–782. https://doi.org/10.1080/13501763.2015.1020835

Swen Hutter und Hanspeter Kriesi: Politicizing Europe in times of crisis. In: Journal of European Public Policy. Band 26, Nr. 7, 2019, S. 996–1017. https://doi.org/10.1080/13501763.2019.1619801

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. 3. Auflage. Suhrkamp, Berlin 2018, ISBN 9783518297339.

Andreas Heinemann-Grüder: Russland-Politik in der Ära Merkel. In: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen. Band 6, Nr. 4 2022, S. 359–372. https://doi.org/10.1515/sirius-2022-4002

Simon Hix: What's Wrong with the Europe Union and How to Fix It. Polity, Hoboken, New Jersey 2013, ISBN 0745642055.

Thomas Diez: Constructing the Self and Changing Others. Reconsidering `Normative Power Europe'. In: Millennium: Journal of International Studies. Band 33, Nr. 3, 2005, S. 613–636. https://doi.org/10.1177/03058298050330031701

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