Ist die EU-Erweiterung am Ende?

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Barbara Lippert2023

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Geschrieben von Laura Worsch

Bei te.ma veröffentlicht 04.08.2023

Geschrieben von Laura Worsch
Bei te.ma veröffentlicht 04.08.2023

Der Politikwissenschaftlerin Barbara Lippert zufolge hat die Europäische Union die geopolitischen Konsequenzen ihrer eigenen Erweiterungspolitik zu lange ignoriert. In der Zeitschrift für Politikwissenschaft mahnt sie an, dass die Erweiterungspolitik kein Ersatz für eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber den Beitritts- und Nachbarschaftsländern sein darf.

Die vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz deklarierte Zeitenwende als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine betrifft diverse Politikbereiche der Bundesregierung, vor allem die Außen- und Verteidigungspolitik. Doch stellt sie auch eine Zäsur für die europäische Erweiterungspolitik dar? Mit dieser Frage leitet Barbara Lippert ihre Überlegungen ein, wie die EU-Erweiterungspolitik in Zukunft aussehen könnte und sollte.

Zunächst müsse man zwischen Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik unterscheiden, so Lippert. Obwohl beide oft synonym als EU-Außenpolitik betitelt würden, seien ihre sicherheits- und außenpolitischen Konsequenzen paradoxerweise oftmals ignoriert worden. Insbesondere habe man in der Vergangenheit die geopolitischen Auswirkungen der EU-Erweiterung vernachlässigt. Stattdessen habe der Binnenbezug der Erweiterung im Vordergrund gestanden. Man habe sich vor allem dafür interessiert, wie diese die EU in ihren Strukturen, Prozessen und Policies verändere. Diese Haltung ignoriere sowohl die Perspektive der Beitrittskandidaten wie auch potentielle geopolitische Reaktionen.

Unter Verweis auf die EU-Osterweiterung sowie den Umgang mit dem Westbalkan und den östlichen Partnerländern kritisiert Lippert das starre Erweiterungsmodell der EU. Dieses sei vor allem auf die Expansion von EU-Strukturen fokussiert. Dieser „One-size-fits-all“-Ansatz wurde bereits Anfang der 2000er Jahre von den Politikwissenschaftlern Tanja Börzel und Thomas Risse kritisiert.1 Der Begriff beschreibt die Praxis der EU, auf alle Beitrittsländer dieselben Regeln und Verfahren anzuwenden und damit die diversen kulturellen und sozioökonomischen Besonderheiten der betroffenen Gesellschaften außer Acht zu lassen.

Obwohl die EU mit der Gründung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) eine Differenzierung der Erweiterungspolitik unternommen habe, erfolgten Lippert zufolge Entwicklungen doch stets als Reaktion auf einen äußeren, geopolitischen Impuls. Davon zeugten die Gründung der Östlichen Partnerschaft (ÖP) 2009 infolge des georgisch-russischen Kriegs in Südossetien sowie die Entwicklung der fünf Mogherini-Prinzipien im Bezug auf die europäische Russlandpolitik.

Für Lippert zeichnet sich bereits jetzt ab, dass sich die neuen geopolitischen Verhältnisse auch auf die Zukunft der Erweiterungspolitik auswirken. Das werde vor allem  bei der Versicherheitlichung von Assoziierungsabkommen in Bezug auf Energiesicherheit und Lieferketten sichtbar. Dies spiele sich vor einem Kontext ab, in dem die amerikanisch-chinesische Rivalität der „neue strukturelle Weltkonflikt“ sei. Den Konflikt des Westens mit Russland sieht Lippert hingegen interessanterweise lediglich als „regional begrenzten Systemkonflikt“ zwischen Demokratie und Autoritarismus. Dabei ist in Lipperts Argumentation fraglich, ob beide Auseinandersetzungen nicht zwei Ausprägungen desselben globalen Systemkonflikts sind, von denen der erste wirtschaftlich, der zweite militärisch ausgetragen wird.

In der geopolitischen Aufladung der EU-Erweiterung, so Lipperts Fazit, liegen auch neue Risiken, denn die Legitimität und Funktionalität der EU könnten dadurch massiv gefährdet werden. Stattdessen müsse die EU zunächst ihre internen Herausforderungen mit den bestehenden Mitgliedstaaten angehen sowie ihre Außen- und Sicherheitspolitik mit den Nachbarländern robuster gestalten. Lipperts Position weicht somit vom Optimismus der Verfechter schnellerer Beitrittsprozesse für die östlichen Nachbarn ab. Obwohl die Verleihung des Kandidatenstatus an Georgien, die Ukraine und die Republik Moldau die EU moralisch und politisch in die Pflicht nehme, sollte mit den Ländern gemeinsam auch nach Alternativen außerhalb der EU-Mitgliedschaft gesucht werden. Konkret schlägt sie einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (EPWR) vor, dem die EU-Mitglieder und ihre östlichen Nachbarn angehören könnten. 

Lipperts Vorschläge scheinen vorerst jedoch wenig realistisch: Weder das sog. „assoziierte Trio“ noch die Balkan-Staaten werden sich zum jetzigen Zeitpunkt (Stand: Juli 2023) mit etwas anderem als der vollwertigen EU-Mitgliedschaft zufriedengeben. Auch wenn Lippert diese Bilanz nicht explizit zieht, wird dennoch deutlich, dass sich die Erweiterungspolitik der EU im Sinne der Zeitenwende zwangsläufig und unwiederbringlich verändern wird.

Fußnoten
1

Tanja Börzel und Thomas Risse: One size fits all! EU policies for the promotion of human rights, democracy and the rule of law. Beitrag im Rahmen des  Workshop on Democracy Promotion, 4./5. Oktober 2004, Center for Development, Democracy, and the Rule of Law, Stanford University.

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Das Gesprächsformat zwischen der EU und den Außenministerien Georgiens, Moldaus und der Ukraine wird auch als assoziiertes Trio bezeichnet. Es beschäftigt sich vor allem mit Fragen der anvisierten EU-Mitgliedschaft dieser Staaten.

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Die EU-Osterweiterung umfasste 2004 die Staaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern sowie 2007 Bulgarien und Rumänien.

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