Über den Kanal Mehrsprachigkeit

Seit Beginn der Moderne gilt Einsprachigkeit als gesellschaftliche Normalität. Dabei leben Menschen seit jeher in vielen Sprachen zusammen. Es ist an der Zeit für eine Debatte über Mehrsprachigkeit in Deutschland und anderswo. Wir nehmen das Phänomen aus politischer wie linguistischer Perspektive in den Blick: Woher kommt die Vorstellung von Nationalsprachen? Wie beeinflussen sich Sprachen in mehrsprachigen Gesellschaften? Und warum machen wir in Deutschland einen Unterschied zwischen Englisch, Sorbisch und Tigrinya? 

Mehrsprachigkeit

Einsprachigkeit ist ein Sonderfall. Die Vorstellung von sprachlich homogenen Völkern und Nationalstaaten ist eine politische Idee, die erst im 18. Jahrhundert entstanden ist – maßgeblich auch in Deutschland. Bis heute ist sie in Europa und durch ihren kolonialen Export auf der ganzen Welt wirkmächtig. Doch selten wird sie den sprachlichen Realitäten vor Ort gerecht. Nicht auf individueller Ebene, auf der Menschen in den allermeisten Fällen mehrsprachig sozialisiert sind (und sei es eine Mehrsprachigkeit zwischen Dialekt- und Hochsprache), und auch nicht auf gesellschaftlicher Ebene: Menschen leben in verschiedensten Kontexten mehrsprachig zusammen. Historisch war Einsprachigkeit so schon immer die Ausnahme. Heute, in einer Welt, die zunehmend durch Migration, Mobilität und digitale Vernetzung geprägt ist, werden die Risse im ideologischen Konstrukt der Einsprachigkeit unübersehbar. Vor allem stellen Phänomene der Mehrsprachigkeit „nicht mehr nur eine Angelegenheit der ‚Anderen‘, der Minderheiten- und Migrantengruppen dar“, wie der Linguist Jannis Androutsopoulos schreibt.

Wer an mehrsprachige Staaten denkt, mag als Erstes vielleicht an Länder wie die Schweiz oder Indien denken, in denen mehrere Amtssprachen koexistieren. Vielleicht auch an Brasilien oder Ghana, in denen neben einer kolonial geprägten Amtssprache eine Vielzahl von regionalen Sprachen gesprochen wird. Doch auch Deutschland ist ein mehrsprachiges Land – und das in vielerlei Hinsicht! 

Neben dem Standarddeutschen existieren verschiedenste Dialekte. In Büros, Universitäten und – zumindest in Städten wie Berlin – zunehmend auch in Bars und Clubs wird oft Englisch gesprochen. Einwander*innen und deren Nachkommen pflegen eine Vielzahl von Sprachen, wie Türkisch, Russisch, Farsi oder Vietnamesisch, die zunehmend den öffentlichen Raum prägen. Schließlich werden in Deutschland eine Reihe von Regional- und Minderheitensprachen wie etwa Dänisch, Sorbisch, Romani oder Niederdeutsch gesprochen. 

All diese Phänomene werden sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Debatte oft getrennt voneinander diskutiert. Auf der einen Seite die sogenannte „autochthone Mehrsprachigkeit“, mittels alteingesessener Sprachen, die kulturell zu Deutschland gezählt werden. Auf der anderen Seite die „allochthone Mehrsprachigkeit“, die durch gegenwärtige Einwanderung entsteht. Nicht selten wird in letzter zusätzlich unterschieden zwischen den Sprachen von „Expats“ (in der Regel weißen und gut bezahlten Einwanderer*innen und deren Nachkommen, die etwa Englisch, Französisch oder Schwedisch sprechen) und Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ (in der Regel Einwanderer*innen und deren Nachkommen, die etwa Polnisch, Albanisch oder Dari sprechen). 

Wir fragen uns: Warum eigentlich diese Trennung? In unserem neuen Kanal wollen wir Mehrsprachigkeit jenseits dieser Kategorien und ihren Hierarchisierungen diskutieren, die den öffentlichen Diskurs noch viel zu oft prägen. Wir machen keinen Unterschied zwischen Sorbisch und Tigrinya. 

Kurator Julian Andrej Rott: „In unserem neuen Kanal wollen wir Mehrsprachigkeit jenseits von alten Denkmustern diskutieren.“

Dem Thema nähern wir uns dabei in seiner linguistischen wie seiner gesellschaftlichen Dimension. Uns interessiert beispielsweise, wie sich das in Deutschland gesprochene Türkisch mittlerweile von dem in der Türkei gesprochenen unterscheidet. Ob Kiezdeutsch ein neuer Dialekt ist. Oder wie Minderheitensprache wie das Niederdeutsche geschützt werden können. Dabei kommen Stimmen aus verschiedenen Communities zu Wort, die – teils mehrsprachig – von ihrem polyglotten Leben in einer Gesellschaft berichten, deren Selbstverständnis weitestgehend von einem monolingualen Habitus geprägt ist.

Dieser doppelte Blick aus linguistischer und gesellschaftswissenschaftler Analyse wird uns auch später in der Season begleiten. Zum einen werden wir uns kritisch mit der politischen Herstellung von Einsprachigkeit in Europa und kolonialen Kontexten auseinandersetzen. Dabei werden wir einen Blick in die (Ideen-)Geschichte werfen sowie zeitgenössische Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Sprache und Staat in den Blick nehmen, beispielsweise in Belgien oder Indien.

Aus linguistischer Perspektive werden wir uns eingehend mit Fragen des Sprachkontakts und des multilingualen Spracherwerbs auseinandersetzen: Sollten Sprachen vor äußeren Einflüssen geschützt werden? Ist Sprachvermischung gleich Sprachverfall? Welche Elemente werden bei Sprachkontakt aus anderen Sprachen übernommen und warum? Was macht eine zweisprachige Erziehung mit dem menschlichen Gehirn und wie können wir multilinguale Kinder besser unterstützen? 

Wir freuen uns auf sechs spannende Monate, in denen wir das Thema Mehrsprachigkeit in seiner Mannigfaltigkeit unter die Lupe nehmen – und ganz besonders auf spannende Diskussionen mit der Community!

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Als monolingualer Habitus wird eine Einstellung bezeichnet, die Einsprachigkeit als den Normalfall, Mehrsprachigkeit hingegen als Sonderfall versteht. Auf Grundlage dieser Annahme werden eine Reihe von gesellschaftlichen Entscheidungen getroffen, etwa was den Schulunterricht betrifft.

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