Wie Emotionen die russische Politik bestimmen

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Regina Heller2018

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 17.10.2022

te.ma DOI http://doi.org/10.57964/mvn1-zz60

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 17.10.2022
te.ma DOI http://doi.org/10.57964/mvn1-zz60

In Russlands Politik gegenüber der Ukraine gehe es nicht primär um eine regionale Machtprojektion, sondern um die Rückgewinnung einer zentralen Stellung in der sozialen Ordnung der internationalen Beziehungen. Diese These stellt Regina Heller in ihrem Artikel auf und erarbeitet mittels einer Diskursanalyse die sozio-emotionale Logik hinter Russlands außenpolitischem Handeln. Die Autorin bezieht sich in ihrem Text auf den Zeitraum der Annexion der Krim im Jahr 2014. Die beschriebenen politischen Effekte lassen sich jedoch auch heute als Folge des Überfalls auf die Ukraine beobachten.

Die Politikwissenschaftlerin Regina Heller setzt ihren sozialpsychologischen Erklärungsansatz gegen die gängige neorealistische Darstellung der Triebkräfte hinter der aggressiven russischen Politik in der Ukraine. Danach stellt das Verhalten Russlands den Versuch dar, seine geopolitische Vormachtstellung in der Region auszubauen und den traditionellen Einflussbereich zu verteidigen. 

Regina Heller verweist dagegen auf zwei Paradoxe, die dieser Interpretation widersprechen: Erstens ist Russlands regionaler Führungsanspruch gerade aufgrund seiner Politik zur Wahrung der regionalen Vorrangstellung spätestens seit 2014 mehr denn je in Frage gestellt. Denn in ihrer Folge haben sich nicht nur die Ukraine und Georgien weiter von Moskau distanziert, sondern auch Länder wie Kasachstan, die vorher loyal zu Russland standen. Zweitens hat Russland, das in seiner außenpolitischen Rhetorik zwar auf Prinzipien wie staatliche Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten bestand, selbst nicht gemäß dieser Forderungen gehandelt. Stattdessen hat es die ukrainische Souveränität verletzt und so bewusst Instabilität geschaffen. Hinter Russlands Verhalten vermutet Regina Heller daher eine andere Logik. 

Sie schlägt einen Ansatz vor, der sozio-emotionale Faktoren in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Ihr zentrales Argument ist, dass die russische Politik von dem Ziel angetrieben wird, global soziale Anerkennung zu erlangen. Denn aus sozialpsychologischer Sicht speist sich Russlands Politik aus der Sorge seiner politischen Eliten um den internationalen sozialen Status des Landes, d.h. um eine positive Identität in der internationalen Gesellschaftsordnung.

Den russischen Großmachtstatus macht Heller an drei zentralen Merkmalen fest: Zentralität, Gleichberechtigung und regionale Vormachtstellung. Mit Zentralität ist Russlands Rolle als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats gemeint und seine Fähigkeit, über diese Organisation Macht und Einfluss auszuüben. Gleichberechtigung bezieht sich auf Russlands wahrgenommenes Recht, bei Fragen der europäischen Sicherheit konsultiert zu werden. Die regionale Vormachtstellung bezieht sich auf das angenommene Recht, eine exklusive Einflusszone im postsowjetischen Raum zu beanspruchen. 

In ihrer Analyse zeigt Heller, dass die russische politische Führung sich in allen drei Bereichen durch den Westen immer mehr benachteiligt gefühlt hat.1 Diese als negativ empfundenen Erfahrungen und der seit dem Zerfall der Sowjetunion ungelöste Statuskonflikt prägten Moskaus Ukraine-Politik bis einschließlich 2018. 

Da psychologische Mechanismen jedoch in erster Linie individuell verankert sind, fragt sich, wie (und ob überhaupt) sie in einem komplexen institutionellen Umfeld eines Staates nebst seiner Organisationen ihren Einfluss ausüben können. Die Zusammenführung der dazu erforderlichen  diversen  Analyseebenen ist die wohl größte Herausforderung für den sozialpsychologischen Ansatz.2

Heller kommt zu dem Schluss, dass Russland aus einer „subjektiv“ empfundenen Position eines Verlierers heraus handelte und eine äußerst riskante Politik verfolgte, die nur begrenzte geopolitische Vorteile mit sich brachte und deren Kosten und Auswirkungen vernachlässigt oder falsch eingeschätzt wurden. Auch die ukrainische Widerstandsfähigkeit und die Reaktionen des Westens wurden durch diese Statusfixierung der russischen Elite unterschätzt.


Fußnoten
2

Damit will Heller nicht sagen, dass Staaten Gefühle hätten. Unter Verweis auf die Social-Identity-Theory (SIT) betont sie vielmehr, dass die soziale Identifikation eines Akteurs bzw. Entscheidungsträgers und seine emotionale Bindung an eine bestimmte kollektive oder Gruppenidentität für die subjektive Bewertung des Status von Bedeutung seien. Siehe dazu: Henri Tajfel, John C. Turner: The social identity theory of intergroup behavior. In: Stephen Worchel, William G. Austin (Hrsg.): Psychology of intergroup relations. Chicago 1986, ISBN 0-8304-1075-9, S. 7–24.

Ross James Gildea: Psychology and aggregation in International Relations. In: European Journal of International Relations, Band 26, Nr. 1, September 2020, S. 166-183. DOI: 10.1177/1354066120938830

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