Velychenkos Rekonstruktion ist interessant, da sie bereits im Jahr 2002 und somit vor einschneidenden Ereignissen der jüngeren ukrainischen Geschichte geschrieben wurde:
Die Denkfigur des Kolonialismus hat eine lange Geschichte in der ukrainischen Debatte. Die erste Erwähnung eines russischen Kolonialismus in der Ukraine, so Velychenko, gehe auf das Jahr 1911 zurück. Bis auf wenige Ausnahmen hätten damals ukrainische Denker*innen jedoch weder die Ukraine als kolonisierte Nation noch sich selbst als anti-koloniale Kämpfer*innen verstanden. Mit der Oktoberrevolution im Jahr 1917 habe sich dies geändert. Insbesondere ukrainische Kommunist*innen jener Zeit vertraten einen ukrainischen Nationalismus, der sich sowohl gegen den globalen Kapitalismus als auch gegen die Bolschewisten in Moskau richtete.
Noch bis in die 1930er Jahre hätten ukrainische Historiker*innen immer wieder betont, dass die Ukraine bereits zu Zarenzeiten eine Kolonie gewesen sei. Aus dieser Perspektive habe die Dominanz des russischen Zentrums in Moskau zu politischer Unterwerfung und ökonomischer Unterentwicklung geführt. Bis 1917 habe die Ukraine unter diskriminierenden Investitionen und Zöllen, hohen Steuern und niedrigen Staatsausgaben, einem relativ überentwickelten Landwirtschafts- und Rohstoffsektor sowie einer unterentwickelten verarbeitenden Industrie gelitten. Im späten Zarenreich seien die meisten Ukrainer*innen daher arme und ungelernte Landarbeiter*innen gewesen. Nach 1945 hingegen seien entsprechende ukrainische Stimmen in der Sowjetunion marginalisiert worden. Seitdem habe man anti-koloniale Kritiken gegen das Zarenreich und die Sowjetunion lediglich bei im Ausland lebenden Ukrainer*innen finden können. Velychenko betont in diesem Zusammenhang, dass ukrainische Intellektuelle allerdings vergleichsweise wenig Interesse an ähnlichen Kolonialerfahrungen der Dritten Welt zeigten.
Obwohl es in der ukrainischen Selbstreflexion demnach eine lange Tradition des Nachdenkens über die eigene Abhängigkeitserfahrung gibt, seien Velychenko zufolge dennoch eine Reihe von Themen offen geblieben. Dies betreffe vor allem die Frage, ob der Begriff des Kolonialismus der richtige ist, um das ukrainisch-russische Abhängigkeitsverhältnis auf den Punkt zu bringen. Er weist hier auf die Besonderheiten der Sowjetunion hin. Verstehe man diese als Imperium, so sei das Verhältnis von russischem Zentrum und nicht-russischen „Kolonien” eines, in dem letztere zwar Rohstoffe geliefert, sich aber zuweilen auch auf Kosten des Zentrums entwickelt hätten.
Schließlich, so Velychenko, sei die Einschätzung, ob es sich beim ukrainisch-russischen Verhältnis historisch um ein koloniales handele, von gegenwärtigen politischen Positionen abhängig. Wissenschaftliche Trends zu Beginn der 2000er Jahre hätten dazu beigetragen, die Vorstellung eines russischen Imperiums zu verfestigen, welches man mit den „klassischen” europäischen Imperien vergleichen könne.
Zum einen besteht also kein Konsens über die konkrete Ausformung des russischen Kolonialismus in der Ukraine. Andererseits ist unstrittig, dass sich in den vergangenen 100 Jahren ein Korpus von Arbeiten ukrainischer Historiker*innen herausgebildet hat, der ein anti-koloniales Denken sui generis bereithält. Dieses war nicht primär von globalen Prozessen inspiriert, sondern bildete sich in konkreter Auseinandersetzung mit dem zaristischen, sowjetischen und postsowjetischen Russland heraus. Russlands Krieg im Jahr 2022 wird dem anti-kolonialen Denken in der Ukraine ein weiteres Kapitel hinzufügen.