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Abhängig, aber nicht kolonisiert?

Re-Paper
Stephen Velychenko2002

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 28.11.2022

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/75p4-k706

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 28.11.2022
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/75p4-k706

War die Ukraine eine russische Kolonie? Der Historiker Stephen Velychenko zeichnet die innerukrainische Debatte der vergangenen 100 Jahre zur Frage des russischen Kolonialismus nach. Seine detailreiche Studie zeigt, dass historisch ein Selbstverständnis der Abhängigkeit von Russland zwar stets präsent war, der Begriff des Kolonialismus jedoch bis heute umstritten bleibt.

Velychenkos Rekonstruktion ist interessant, da sie bereits im Jahr 2002 und somit vor einschneidenden Ereignissen der jüngeren ukrainischen Geschichte geschrieben wurde:1 Sie ist unberührt von der Orangenen Revolution 2004, Russlands Annexion der Krim 2014 sowie der Invasion der Ukraine durch die russische Armee 2022. Velychenkos Ausgangspunkt ist ein anderer: Er verweist darauf, dass zwischen 1989 und 1991 acht der dreizehn politischen Parteien in der Ukraine in ihren Programmen davon sprachen, die Ukraine sei eine ausgebeutete Kolonie gewesen. Die Frage eines russischen Kolonialismus in der Ukraine drängte sich demnach bereits Ende der 1980er Jahre im Vorlauf postsowjetischer ukrainischer Eigenstaatlichkeit auf.

Die Denkfigur des Kolonialismus hat eine lange Geschichte in der ukrainischen Debatte. Die erste Erwähnung eines russischen Kolonialismus in der Ukraine, so Velychenko, gehe auf das Jahr 1911 zurück. Bis auf wenige Ausnahmen hätten damals ukrainische Denker*innen jedoch weder die Ukraine als kolonisierte Nation noch sich selbst als anti-koloniale Kämpfer*innen verstanden. Mit der Oktoberrevolution im Jahr 1917 habe sich dies geändert. Insbesondere ukrainische Kommunist*innen jener Zeit vertraten einen ukrainischen Nationalismus, der sich sowohl gegen den globalen Kapitalismus als auch gegen die Bolschewisten in Moskau richtete. 

Noch bis in die 1930er Jahre hätten ukrainische Historiker*innen immer wieder betont, dass die Ukraine bereits zu Zarenzeiten eine Kolonie gewesen sei. Aus dieser Perspektive habe die Dominanz des russischen Zentrums in Moskau zu politischer Unterwerfung und ökonomischer Unterentwicklung geführt. Bis 1917 habe die Ukraine unter diskriminierenden Investitionen und Zöllen, hohen Steuern und niedrigen Staatsausgaben, einem relativ überentwickelten Landwirtschafts- und Rohstoffsektor sowie einer unterentwickelten verarbeitenden Industrie gelitten. Im späten Zarenreich seien die meisten Ukrainer*innen daher arme und ungelernte Landarbeiter*innen gewesen. Nach 1945 hingegen seien entsprechende ukrainische Stimmen in der Sowjetunion marginalisiert worden. Seitdem habe man anti-koloniale Kritiken gegen das Zarenreich und die Sowjetunion lediglich bei im Ausland lebenden Ukrainer*innen finden können. Velychenko betont in diesem Zusammenhang, dass ukrainische Intellektuelle allerdings vergleichsweise wenig Interesse an ähnlichen Kolonialerfahrungen der Dritten Welt zeigten. 

Obwohl es in der ukrainischen Selbstreflexion demnach eine lange Tradition des Nachdenkens über die eigene Abhängigkeitserfahrung gibt, seien Velychenko zufolge dennoch eine Reihe von Themen offen geblieben. Dies betreffe vor allem die Frage, ob der Begriff des Kolonialismus der richtige ist, um das ukrainisch-russische Abhängigkeitsverhältnis auf den Punkt zu bringen. Er weist hier auf die Besonderheiten der Sowjetunion hin. Verstehe man diese als Imperium, so sei das Verhältnis von russischem Zentrum und nicht-russischen „Kolonien” eines, in dem letztere zwar Rohstoffe geliefert, sich aber zuweilen auch auf Kosten des Zentrums entwickelt hätten.2 Zudem gebe es gute Gründe anzunehmen, dass die relative Unterentwicklung der Ukraine in einigen Regionen nicht das Resultat der Eingliederung in den Orbit Russlands war, sondern auf andere Faktoren zurückgeht, etwa die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt.3 

Schließlich, so Velychenko, sei die Einschätzung, ob es sich beim ukrainisch-russischen Verhältnis historisch um ein koloniales handele, von gegenwärtigen politischen Positionen abhängig. Wissenschaftliche Trends zu Beginn der 2000er Jahre hätten dazu beigetragen, die Vorstellung eines russischen Imperiums zu verfestigen, welches man mit den „klassischen” europäischen Imperien vergleichen könne. 

Zum einen besteht also kein Konsens über die konkrete Ausformung des russischen Kolonialismus in der Ukraine. Andererseits ist unstrittig, dass sich in den vergangenen 100 Jahren ein Korpus von Arbeiten ukrainischer Historiker*innen herausgebildet hat, der ein anti-koloniales Denken sui generis bereithält. Dieses war nicht primär von globalen Prozessen inspiriert, sondern bildete sich in konkreter Auseinandersetzung mit dem zaristischen, sowjetischen und postsowjetischen Russland heraus. Russlands Krieg im Jahr 2022 wird dem anti-kolonialen Denken in der Ukraine ein weiteres Kapitel hinzufügen.


Fußnoten
3

Der Beitrag war Teil einer Serie von Veröffentlichungen in der Zeitschrift Ab Imperio, die die Frage des russischen Kolonialismus in der Ukraine beleuchtete. Siehe unter anderem Stephen Velychenko: Post-Colonialism and Ukrainian History. In: Ab Imperio. Nr. 1, 2004, S. 391-404.; Stephen Velychenko: Colonialism, Bolsheviks, and Ukraine. In: Ab Imperio. Nr. 2, 2009, S. 435-456. Stephen Velychenko: Ukrainian Anticolonialist Thought in Comparative Perspective. A Preliminary Overview. In: Ab Imperio. Nr. 4, 2012, S. 339-371; Ilya Gerasimov, Sergey Glebov und Marina Mogilner: The Postimperial Meets the Postcolonial. Russian Historical Experience and the Postcolonial Moment. In: Ab Imperio. Nr. 2, 2013, S. 97-135.; Ilya Gerasimov: Ukraine 2014. The First Postcolonial Revolution. Introduction to the Forum. In: Ab Imperio. Nr. 3, 2014, S. 22–44.; Martin Schulze Wessel: The Concept of Empire and German Sonderwege in the Historical Debate about Ukraine. In: Ab Imperio. Nr. 1, 2022, S. 91–100. 

Boris N. Mironov: The Social History of Imperial Russia, 1700-1917. Westview Press, Boulder, Colorado 2000, ISBN 0813385989.

Wissenschaftler*innen der verschiedensten politischen Ausrichtungen haben auf die problematischen Konsequenzen der Eingliederung auch der heutigen Ukraine in europäische, russische und Weltmärkte verwiesen. Siehe exemplarisch für eine liberale Perspektive Julia Langbein: (Dis-)integrating Ukraine? Domestic Oligarchs, Russia, the EU, and the Politics of Economic Integration. In: Eurasian Geography and Economics. Band 57, Nr. 1, 2016, S. 1-16. Eine marxistische Interpretation bietet Yuliya Yurchenko: Ukraine and the Empire of Capital. From Marketisation to Armed Conflict. Pluto Press, London 2018, ISBN 9780745337371.

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