Gemessen am Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022 divergieren die Positionen des Globalen Südens und des
Ivanov und Singh führen hierfür eine Reihe von Faktoren an. So seien die Rohstoffexporte und kulturellen Verbindungen Russlands in Entwicklungsländer wichtiger als zunächst von westlichen Entscheidungsträgern angenommen. Auch die multipolare Weltordnung, für die Russland eintrete, komme diesen Staaten entgegen. Statt sich auf einen einzigen Hauptpartner festzulegen, erlaube es Multipolarität, flexible Bündnisse und Partnerschaften einzugehen. Die westliche Kolonialgeschichte, vor allem in den Gesellschaften Afrikas und Asiens, sowie ein zuteils tief sitzender Antiamerikanismus würden zudem verhindern, dass sich diese Länder ohne Weiteres auf die Seite des Westens schlagen, auch dann, wenn Russlands Krieg abgelehnt wird. Auch sei die Gewalterfahrung eine andere. Während es in der westlichen Hemisphäre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Rückgang gesellschaftlicher Gewalt gekommen sei, bildeten militärische Konflikte und Gewaltausbrüche in vielen Ländern des Globalen Südens keine Ausnahmen, sondern die Regel.
Gleichwohl arbeitet Russland seit Kriegsbeginn selbst daran, die Länder des Globalen Südens zu verprellen. So waren es russische Kriegsschiffe, die de facto die Ausfuhr von Getreide aus ukrainischen Häfen blockierten – und nicht westliche Sanktionen. Auch haben Länder wie China und Indien kein Interesse an einer dauerhaften und tiefen Destabilisierung des europäischen Marktes, der für sie immer noch zentral ist. Schließlich muten Russlands nukleare Drohgebärden befremdlich an. Weder haben die Nuklearmächte Indien und China Interesse an einer Abkehr vom nuklearen Tabu noch wollen viele kleinere Länder des Globalen Südens selbst Opfer der nuklear bewaffneten regionalen Großmächte werden.
Somit überschätzen Ivanov und Singh möglicherweise das Verständnis nicht-westlicher Länder für Russlands Krieg. Zwar mag die russische Regierung bei ihrem Vorgehen in der Ukraine auf die stille Zustimmung des Globalen Südens gesetzt haben. Allerdings besteht auch dieser aus Ländern mit verschiedenen Interessen, die sich nicht kollektiv und bedingungslos für die Kriegsziele Putins instrumentalisieren lassen. Nicht zuletzt, so Kenias Botschafter bei den Vereinten Nationen, Martin Kimani, sei es für den Globalen Süden „eine Sackgasse, die Glut toter Imperien zu schüren“.