Der 24. Februar 2022 sei ein schwarzer Tag für die Osteuropawissenschaft, denn „zum zweiten Mal in einer Generation zeigt sich, dass sie nichts taugt“, so der Slawist Gerhard Simon. In seinem Artikel, der knapp einen Monat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erschienen ist, übt Simon scharfe Kritik an der Osteuropawissenschaft.
Bereits 1989-1991 sei sie durch den Zusammenbruch des Kommunismus überrumpelt worden und habe nicht damit gerechnet, dass dies ein mögliches Szenario wäre. Die Wissenschaft habe stets entlang der Linien des politischen Konsens und der öffentlichen Meinung gehandelt und geforscht und die Sowjetunion mit Frieden und Stabilität assoziiert. Es sei ein Skandal, dass alternative Szenarien und Fragestellungen gar nicht erst in Betracht gezogen wurden. Des Weiteren kritisiert er, dass die Osteuropawissenschaft stets Russland priorisiert und zudem auch noch das postkommunistische Russland falsch eingeschätzt habe. Man habe immer angenommen, dass Russland ein moderner Staat sei – doch Gerhard Simon argumentiert, dass das Land durch die Invasion der Ukraine endgültig bewiesen habe, dass es kein moderner Staat ist, sich nicht an das Völkerrecht hält und Gewalt und Krieg normalisiert.
Der Westen habe immer mit „Kuschelmaßnahmen“ auf Russland reagiert: Handel und Diplomatie hätte man stets gefördert, in der Hoffnung, dass Russland sich an den Westen anpassen würde. Doch der 24. Februar hätte jegliche Hoffnung dieser Art ausgelöscht. Während Gerhard Simon pessimistisch auf die Geschichte der Osteuropawissenschaft zurückblickt und ihr Versagen unterstellt, sehen dies einige Fachkolleg:innen anders. Die Historikerin Katja Makhotina blickt in ihrem Essay Die Osteuropawissenschaft ist kein Pop-up-Store ebenfalls auf die Geschichte des Faches zurück und stellt fest: Es ist nicht die Forschung, die versagt hat. Es seien vielmehr die Politiker:innen, die Menschenrechtsverletzungen in Russland ignorierten und keine Beratung bei Fachleuten suchten.
In einem Beitrag im Merkur reflektiert Andreas Hilger ebenfalls den Werdegang der Osteuropawissenschaft: Jetzt sei es angemessen, sich mit einer Perspektive der Dekolonialisierung an die Forschungsgegenstände der Osteuropawissenschaft zu wagen. Es gehe nun darum, die gesamte Region unter die Lupe zu nehmen – dazu gehören nicht nur die Ukraine und Belarus, sondern auch die Gebiete im Baltikum, Kaukasus und Zentralasien, die unter sowjetischer Herrschaft standen.