Was wissen wir über mehrsprachige Gesellschaften?

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Jannis Androutsopoulos2018
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Was wissen wir über mehrsprachige Gesellschaften?

»Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit«

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023

te.ma DOI 10.57964/2n2r-yv72

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 21.06.2023
te.ma DOI 10.57964/2n2r-yv72

Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist seit vielen Jahrzehnten ein zentrales Forschungsgebiet der Soziolinguistik. In den Blick genommen werden sprachliche Phänomene, die sich im Zusammenleben von Menschen in multikulturellen und multilingualen Gesellschaften ergeben. Der Linguist Jannis Androutsopoulos zeigt auf, wie sich die Perspektiven der Forschung im Zuge immer diverserer Gesellschaften verändert haben.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht, schreibt Jannis Androutsopoulos, gelte Mehrsprachigkeit schon seit Jahrzehnten als „Normalfall sprachlicher Kommunikation“. Bereits in den 1970er Jahren habe etwa Mario Wandruzka die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit eingeführt. Mehrsprachig zu sein bedeute demnach nicht zwangsläufig, eine oder mehrere Fremdsprachen zu sprechen (äußere Mehrsprachigkeit) – sie ergebe sich ebenso aus dem Nebeneinander der verschiedenen Register der Muttersprache in Elternhaus und Schule (innere Mehrsprachigkeit). Seit den 1990er Jahren mit ihren sich verstärkenden Wechselwirkungen von Migration, Mobilität und Digitalisierung sei Einsprachigkeit schließlich auch in der breiten Gesellschaft als „Normallage“ zunehmend „ins Schwanken“ geraten. Vor allem stelle „sie nicht mehr nur eine Angelegenheit der ‚Anderen‘, der Minderheiten- und Migrantengruppen dar.“ 

Die Sprachwissenschaften haben diese Entwicklungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts unter der Rubrik gesellschaftliche Mehrsprachigkeitsforschung in den Blick genommen. Zu Beginn, schreibt Androutsopoulos, sei diese Forschung vor allem durch sprachsoziologische Zugänge geprägt gewesen. Untersucht worden seien zum einen die Entstehungsfaktoren gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit im Kontext von Kolonialismus und Migration, zum anderen Prozesse der Sprachentwicklung, -erhaltung und -wahl in mehrsprachigen Gemeinschaften.

Grundlegend kritisiert Androutsopoulos an der frühen Mehrsprachigkeitsforschung jedoch drei Punkte. Zum einen habe sich damals die bis heute gängige Unterscheidung zwischen sogenannter „autochthoner“ und „migrationsbedingter“ Mehrsprachigkeit etabliert: die Sprachen von alteingesessenen Minderheiten einerseits (in Deutschland etwa Sorbisch oder Friesisch), die Sprachen von Migrant*innen und ihren Kindern andererseits (in Deutschland etwa Türkisch, Arabisch oder Polnisch). Doch während die europäischen Minderheitensprachen eingehend erforscht worden seien, sei migrationsbedingte Mehrsprachigkeit lange zu wenig in den Blick genommen oder auf Phänomene des „ungesteuerten Deutscherwerbs“ reduziert worden. Androutsopoulos charakterisiert die Forschung der 1990er Jahre als Forschung aus der „Vogelperspektive“. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sei vor allem auf „abstrakter Ebene typologisiert“ worden. Es sei etwa darum gegangen, Sprachen zu klassifizieren, juristische Rahmenbedingungen oder „typische“ Entwicklungswege zu erforschen. 

Vor allem sei die Leitvorstellung der Zeit weniger ein „In- und Miteinander als ein Nebeneinander von Sprachen“ gewesen – eng verbunden mit gesellschaftlichen Vorstellungen des Multikulturalismus als „gleichberechtigte[s] Nebeneinander von einzelnen ethnischen und kulturellen Gruppen.“ Mehrsprachigkeit habe so vor allem die Kompetenz von mehreren Sprachen bezeichnet, die unabhängig voneinander existieren – und jeweils mit einer nationalen oder ethnischen Identität korrespondieren. 

Androutsopoulos beschreibt nun, wie sich diese Vorstellungen um die Jahrtausendwende wandeln. Die Forschung habe sich damals von zwei Prämissen gelöst: dem Ideal einer „festen Entsprechung zwischen Sprache, Volk und Territorium“ einerseits, der Vorstellung von Sprachen als in sich geschlossene, klar voneinander abgegrenzte Einheiten andererseits. Damit habe sich auch die wissenschaftliche Konzeption von Mehrsprachigkeit verändert. Statt einem Nebeneinander oder einer Mischung von zwei (oder mehreren) als getrennte, objektive Entitäten wahrgenommenen Einzelsprachen verstehe die neuere Forschung Einzelsprachen als „sprachideologische Konstrukte“, die erst durch durch „Praktiken der sprachlichen Reflexion, des Sprechens über Sprache(n)“ hervorgebracht werden. Einzelsprachen werden also nicht mehr als „objektiv“ gegebene Größen angenommen – und Mehrsprachigkeit bedeutet nicht mehr lediglich ein Nebeneinander oder ein Kontakt zwischen diesen Sprachen. 

Im Zuge einer durch diesen Paradigmenwandel einsetzenden Forschungswelle sei auch der Begriff der Mehrsprachigkeit beziehungsweise Multilingualität zunehmend kritisch gesehen worden, beschreibt Androutsopoulos. Der dänische Linguist Jens Normann Jørgensen habe sich mit seinem Konzept der Polylingualität explizit gegen normative Vorstellungen positioniert, die historisch mit dem Konzept der „Mehrsprachigkeit“ assoziiert werden – also etwa, dass mehrsprachige Sprecher*innen die Sprachen zwingend getrennt voneinander verwenden müssen und dies auf eine Weise tun, die sich „vom Gebrauch dieser Sprache unter Einsprachigen grundsätzlich nicht unterscheidet“. Nach der von Jørgensen postulierten „polylingualen Norm“ greifen Sprecher*innen hingegen „auf alle ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Elemente“ zurück, um ihre kommunikativen Ziele zu erreichen – „auch wenn diese für andere Sprecher*innen vielleicht nicht unbedingt zusammenpassen und unabhängig davon, wie gut sie die jeweiligen Sprachen können“. 

Einen ähnlich kritischen Ansatz stellt für Androutsopoulos auch das von Amy Otsuji und Alastair Pennycook entwickelte Konzept der „Metrolingualität“ dar. Die Linguist*innen hätten nicht nur die „Großstadt als Raum gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt“ gerückt, sondern ein Forschungsparadigma entwickelt, das Mehrsprachigkeit „von unten“ in den Blick nimmt. Statt der Policy-orientierten „Vogelperspektive“ der 1990er Jahre geraten nun die Menschen und ihre alltäglichen Mikrointeraktionen im Rahmen einer an der Ethnografie geschulten Forschung in den Fokus. Dadurch seien bislang kaum beachtete Randbereiche mehrsprachiger Praxis sichtbar geworden – etwa der informelle Gebrauch kleinster Elemente anderer Sprachen. Mehrsprachigkeit, zeige diese Forschung, setze keinesfalls weitgehende Kompetenzen in einer oder mehreren Sprachen voraus. Metrolinguale Kommunikation sei geprägt „durch eine Abwechslung sprachlicher Ressourcen, die keiner fixen Entsprechung zwischen Sprache, Nation und Territorium folgt, sondern sich an situativ ausgehandelten Identitätsorientierungen und Interaktionspartnern ausrichtet.“ In kreativen sprachlichen Praktiken entstehe eine „Art Remix“, in dem „kulturelle, geschichtliche, politische Grenzen überschritten“ und „herkömmliche Vorstellungen davon, welcher Gruppe eine bestimmte Sprache ‚gehöre‘, überwunden werden.“ 

Heute zeige die Forschung zudem, dass individuelle, sprecher*innenspezifische Besonderheiten oft stärker ins Gewicht fallen als gruppenspezifische Gemeinsamkeiten. Die aktuelle Forschung, die sich verstärkt Individuen zuwende, wirke so „auch als Korrektiv gegen pauschale, von außen an die Sprecher herangetragene Erwartungen über die ‚typische‘ sprachliche Performanz bestimmter ethnischer Gruppen.“

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