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Warum der Populismus bleiben wird

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Philip Manow2024

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Intro

Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 04.07.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/nd6a-ap93

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 04.07.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/nd6a-ap93

Eigentlich geht die Geschichte seit Jahren ungefähr so: Die gute liberale Demokratie ist unter Beschuss. Geschossen wird von den bösen Populist*innen, die als „das Andere“ der liberalen Demokratie angesehen werden und gegen die sie sich verteidigen soll. Philip Manow ist mit dieser Erzählung nicht einverstanden. Für ihn ist der Populismus nicht das Andere der liberalen Demokratie, sondern ihr Gespenst. Solange die Demokratie liberal bleibe, solange werde es populistische Gegenbewegungen geben. 

Grundlegend für Manows Überlegungen ist seine Forderung, die Demokratie zu historisieren. Statt so zu tun, als hätte sich die Geschichte unweigerlich auf eine spezifische Demokratieform zubewegt, die gegenwärtig als „liberal“ bezeichnet wird, müsse anerkannt werden, dass die liberale Demokratie eben nicht die Demokratie sei, sondern lediglich eine ihrer Spielarten. So werde es möglich, analytisch zwischen Angriffen auf die Demokratie und solchen auf die liberale Ausgestaltung der Demokratie zu unterscheiden. 

Auf den ersten Blick überraschend konstatiert Manow, dass es die liberale Demokratie überhaupt erst seit den 1980er-Jahren gebe. Er kommt zu diesem Schluss, weil er unter liberaler Demokratie eine bestimmte institutionelle Ausgestaltung demokratischer Systeme versteht. Sein Fokus liegt hierbei auf liberalen Institutionen, die den demokratischen Mehrheitswillen in bestimmten Schranken halten, und zwar Verfassungsgerichte mit dem Recht auf Normenkontrolle. Deren Zahl nimmt in den 1980er- und 1990er-Jahren – unter anderem bedingt durch Demokratisierungen in den vormaligen Ostblock-Staaten – rapide zu. Charakteristisch für sie ist die Kompetenz, darüber zu entscheiden, ob Gesetze verfassungskonform sind oder nicht. Ist Letzteres der Fall, treten die Gesetze nicht in Kraft beziehungsweise müssen zurückgezogen werden. In der deutschen Politikberichterstattung heißt es dann oftmals, „Karlsruhe“ habe ein Gesetz „kassiert“

Für Manow wurden demokratische Mehrheiten nach 1990 jedoch nicht nur durch die Etablierung dieser nationalen Verfassungsgerichtsbarkeiten an die Leine gelegt, sondern zusätzlich durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Weil das nationale Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Einklang mit dem Europarecht stehen muss, können legislative Akte dem EuGH zur Prüfung vorgelegt werden, wenn sie Europarecht betreffen. Da dies sehr häufig der Fall ist, stehen viele parlamentarische Mehrheitsentscheidungen unter dem Vorbehalt, vom EuGH zurückgewiesen zu werden. Der EuGH fungiert dann als starkes Verfassungsgericht – und zwar selbst dann, wenn es ein solches auf der nationalen Ebene nicht gibt. Laut Manow wurden die Kontrollmöglichkeiten in den vergangenen rund 25 Jahren exzessiv genutzt, auch weil sich manche Verfassungsrichter*innen für die besseren Gesetzgeber*innen gehalten hätten. Mit anderen Worten: „Die Justizialisierung politischer Konflikte [zieht] regelmäßig die Politisierung der Justiz nach sich“.1

Von der elektoralen zur liberalen Demokratie – und wieder zurück?

Vor diesem Hintergrund, so Manow, sei ein nüchterner Blick auf die Orbáns, Erdoğans, Kaczyńskis und Netanjahus dieser Welt geboten. Statt den Untergang der Demokratie herbeizuschreiben, sollten Politikwissenschaft und Medien den Populismus als das sehen, was er ist: Die Reaktion auf einen Wandel der elektoralen hin zur liberalen Demokratie. Wenn nicht-majoritäre Institutionen wie Verfassungsgerichte immer wieder Mehrheitsentscheidungen einkassieren würden, dann müsse man sich nicht wundern, wenn dies zu Frustration beim demokratischen Souverän führe. Die israelische Justizreform beispielsweise ist dann kein Angriff auf die Demokratie, sondern der naheliegende Versuch, die liberale Demokratie zu entliberalisieren und in Richtung elektorale Demokratie zurückzubauen, entsprechend dem demokratischen Schlachtruf: „The majority is to govern.“2

Manow stellt sich mit seinen Ausführungen unter anderem gegen die in den letzten Jahren immer wieder vertretene These, der zufolge populistische Parteien vor allem aufgrund des Siegeszugs neoliberaler Politik erfolgreich gewesen seien. Weil diese Politik die (untere) Mittelschicht massiv verunsichert und Abstiegsängste befeuert habe, so Vertreter*innen dieser These, konnten jene Kräfte erfolgreich werden, die ein „Zurück-in-die-Vergangenheit“ versprachen und versprechen. Die eigentliche Ursache für den Aufstieg des Populismus, so Manow, sei aber nicht in einem vage bleibenden Neoliberalismus zu suchen, sondern in ganz konkreten institutionellen Verschiebungen innerhalb der europäischen Demokratien, namentlich der Installierung und Aufwertung von Verfassungsgerichten.

Wie schon in seinem letzten Buch plädiert Manow also für weniger Aufgeregtheit im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs. Die Debatte um Populismus und Demokratie dürfte er damit zweifelsfrei bereichern. Die Frage ist, ob er die Befürworter*innen der so genannten „illiberalen Demokratie“ etwas zu einseitig in den Blick nimmt. Geht es ihnen tatsächlich in erster Linie darum, der Mehrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen? Oder deuten etwa Wahlrechtsreformen und Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten nicht eher darauf hin, dass bestehende Mehrheiten gegen jedwede oppositionelle Herausforderung immunisiert werden sollen? Letzteres hätte mit Demokratie nicht mehr viel zu tun, sei sie nun liberal oder elektoral. 

Fußnoten
2

Philip Manow: Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Suhrkamp, Berlin 2024, S. 95.

Andrew Jackson: First Annual Message vom 8. Dezember 1829. In: The American Presidency Project, abgerufen am 1. Juli 2024.

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Neoliberalismus ist eine Denkrichtung sowie ein politisches Projekt innerhalb des Liberalismus, das darauf zielt, mithilfe des Staates Marktprinzipien in möglichst allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens zu verwirklichen. Der Neoliberalismus lehnt Eingriffe in die Wirtschaft ab und betont die Prinzipien des privaten Eigentums, der freien Preisbildung sowie der Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit.

Unter Historisierung wird in der Geschichtswissenschaft ein Verfahren verstanden, das versucht, Begriffe nicht absolut zu verstehen, sondern als sich über die Zeit entwickelnd. 

Es wird also beispielsweise nicht nach der Demokratie gefragt, sondern danach, was zu unterschiedlichen Zeiten unter Demokratie verstanden wurde.

Historisierende Betrachtungen gehen also immer von einer grundsätzlichen Wandelbarkeit der Begriffe aus.

Als Normenkontrolle wird die gerichtliche Überprüfung rechtlicher Regelungen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht bezeichnet.

Europäische Gerichtshöfe prüfen also beispielsweise, ob nationales Recht mit dem Europarecht vereinbar ist.

Als elektorale Demokratien werden demokratische Systeme bezeichnet, in denen politische Herrschaft durch Wahlen legitimiert wird.

Umfassende liberale Schutzrechte existieren in elektoralen Demokratien ebenso wenig zwangsläufig wie starke Kontrollinstanzen gegenüber dem Mehrheitswillen, etwa in Form von Verfassungsgerichten.

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Mich würde interessieren, was unsere User unter „liberal“ verstehen. @tobias_müller schildert oben in seinem Intro ja, dass Manow einen Wandel in den westlichen Demokratien sieht: nicht nur das Wählen (und Abwählen) macht die Demokratie aus (Stichwort: elektoral), sondern auch die „liberalen Institutionen“ wie z. B. das Verfassungsgericht, das überprüft, ob Gesetze die – höherstehenden – Normen der Verfassung einhalten.

Das kann ja auf den ersten Blick als eine seltsame Verwendung des Wort „liberal“ erscheinen, wenn man unter „liberal“, wie seine Bedeutungsgeschichte nahelegt, „freiheitlich“ versteht (lat. liberalis, „die Freiheit betreffend“). Überhaupt wird „liberal“ heute in sehr vielen verschiedenen Weisen verwendet: in den USA bedeutet „liberal“ auch so viel wie links-progressiv, in den Internationalen Beziehungen bedeutet es „völkerrechtsorientiert“, dann reden wir von „Neoliberalismus“ in der Wirtschaft und so weiter. Teils entstehen da sogar Widersprüche zur älteren Bedeutung „individuell-freiheitlich“.

Meine Frage ist, nochmal genauer gefasst: Denkt ihr, wenn ihr „liberale Demokratie“ hört, an eine Demokratie, in der gewisse Rechte und Normen, z. B. von Minderheiten, besonders geschützt sind, oder an eine Demokratie, in der besonders viel Freiheit, z. B. Meinungsfreiheit oder Freiheit, zwischen verschiedenen Parteien zu Wählen gewährleistet ist? In meinem Kopf entstehen nämlich beide Assoziationen, und von der Sache her gehen sie nicht unbedingt zusammen.

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